Direkt zum Hauptinhalt
14.10.2022

17. Sitzung

»Wäre der Notausgang offen gewesen und wären alle dahin gerannt, hätten alle überlebt«

In der 16. öffentlichen Sitzung des Untersuchungs­ausschusses zum rassistischen Anschlag in Hanau ging es wie in den vorherigen Sitzungen um den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar. Am 14. Oktober sagten Robert Trafford von Forensic Archtecture, ein Mitarbeiter und ein Stammgast der Arena-Bar, eine psychologische Sachverständige und der Hanauer Staatsanwalt Christoph Links hierzu aus. Während Trafford als Sachverständiger sein Gutachten vorstellte und der Mitarbeiter und der Stammgast der Bar Aussagen machten zum verschlossenen Notausgang, versuchte StA Links zu begründen, warum er die Ermittlungen hierzu eingestellt hatte. Die psychologische Sachverständige Sticher erklärte den Ausschussmitgliedern, dass das Verhalten von Menschen in Stresssituationen nicht planlos sei. Zwei weitere für die Sitzung geplanten Zeugen wurden wieder abbestellt. Trotzdem dauerte die Sitzung knapp 13 Stunden bis 22 Uhr.

Mit Beginn der Sitzung wurde Robert Trafford von Forensic Arcitecture (FA) als Sachverständiger angehört. Forensic Arcitecture hatte im Auftrag der Angehörigen und Überlebenden ein Gutachten zum verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar in Hanau erstellt. Das Gutachten ging der Frage nach, ob sich die in der Bar aufhaltenden Personen vor dem Angriff des Täters in Sicherheit hätten bringen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre und wenn sie dorthin gelaufen wären. Für das Gutachten erstellte FA ein digitales Modell der Arena-Bar, erstellte anhand der Videoaufnahmen aus der Bar einen zeitlichen Ablauf und untersuchte anhand der Bewegungsdaten, was passiert wäre, wenn sie dorthin gelaufen wären. FA kam zu dem Ergebnis, dass alle Getöteten in der Arena Bar in diesem Fall überlebt hätten. Das Gutachten wurde in einem Video und einem dazugehörigen Methoden-Bericht veröffentlicht und den Ausschuss-Mitgliedern in der dritten Sitzung vom Angehörigen und Überlebenden Said Etris Hashemi bei seiner Aussage übergeben.

Trafford, für den größtenteils ein Übersetzer ins Englische und zurück übersetzte, bedankte sich für die Einladung und stellte kurz FA vor, nachdem dieser sich den Videobericht der Untersuchung gemeinsam erneut anschaute. Bei FA ermittelten sie immer in Fällen, in denen die Rechte von Menschen durch Behörden und staatliche Gewalt verletzt würden. FA sei 2001 beim Goldsmith College der University of London gegründet worden. Daneben gebe es den Partnerverein Forensis e.V. mit Sitz in Berlin. Das Gutachten sei in diesem Fall zum großen Teil aus Crowdfunding-Mitteln und von ein paar anderen Geldgebern wie Museen und Stiftungen gekommen. In ihrem Team hätten sie Architekt*innen, Journalist*innen, Videoanimator*innen u.a. Für ihre Ermittlungen zögen sie Methoden wie Video- und Bildanalysen und Modelling heran. Bereits im Untersuchungs­ausschuss zum NSU-Mord an Halit Yozgat war eine Untersuchung von Forensic Arcitecture Thema im Landtag.

Anliegen der Untersuchung war zu überprüfen, ob die Aussage der StA Hanau, es sei nicht zu überprüfen gewesen, ob die Opfer genügend Zeit gehabt hätten, die Tür zu erreichen, zutreffend war oder nicht, so Trafford. Dies hatte die StA in ihrer Begründung geschrieben, warum die Ermittlungen hierzu eingestellt wurden. »Im Video wird klar: Wäre der Notausgang nicht verschlossen gewesen hätten alle fünf Personen überleben können. Die Gruppe hatte neun Sekunden Zeit um zu überleben. Wäre der Notausgang offen gewesen und wären alle dahin gerannt, hätten alle überlebt« fasste Trafford das Ergebnis ihrer Untersuchung zusammen.

Außerdem legte er einen weiteren Beweis vor, dass der Notausgang der Arena-Bar am Tatabend verschlossen war: Auf den Überwachungsvideos seien mehrfach Personen zu sehen gewesen, zuletzt etwa 30 Minuten vor dem Anschlag, wie die Personen Richtung Notausgang gingen und nach wenigen Sekunden zurückkehrten. Trafford schloss daraus, dass am Tatabend mehrere Personen, darunter auch der getötete Said Nessar Hashemi, versuchten vor dem Anschlag die Notausgangstür zu benutzen um nach draußen zu gelangen, diese aber verschlossen war.

In der folgenden Befragung durch die Abgeordneten der einzelnen Fraktionen bekam Trafford eine Reihe an kritischen Fragen zum Ansatz ihrer Untersuchung und deren Methodologie gestellt. Teils benannten die Fragen kritische Punkte der Untersuchung, teils verfehlten sie aber auch ihren Sinn, da sie wenig Kenntnis wissenschaftlicher Untersuchung aufwiesen oder am Thema vorbei gingen.

So betonte der CDU-Obmann Müller immer wieder, dass Menschen in Krisensituationen nicht rational handeln würden (dem widersprach die psychologische Sachverständige später in der Sitzung eindeutig), FA in ihrer Untersuchung aber hiervon ausgingen. Trafford wiederholte, dass es ihnen in der Untersuchung darum ging, ob die Personen den Notausgang hätten erreichen können, wenn sie dorthin gerannt wären, nicht ob sie dorthin gerannt wären. Im Weiteren ging es viel um die Methodik der Untersuchung. So wurde insbesondere von der CDU kritisch gefragt, warum der Laufweg zum Notausgang lediglich von fünf anstatt von den anwesenden sieben Personen berechnet wurde. Trafford erklärte mehrmals, dass nur bei fünf Personen Laufwege tatsächlich vorhanden waren, die sie auf den Laufweg zum Notausgang übertragen konnten. Die anderen zwei Personen seien ausgelassen worden, weil es unseriös sei, sich Laufgeschwindigkeiten auszudenken wenn die Personen in der Bar sich gar nicht bewegt hatten. Insbesondere dieser Punkt nahm viel Raum für kritische Fragen ein, da sich durch zwei zusätzliche Personen, die zum Notausgang gelaufen wären, auch womöglich das Zeitfenster, in dem die Personen aus der Bar dieser erreicht hätten, verschob. Trafford erklärte sich immer wieder, dass sie die zwei Personen außen vor gelassen hätten, weil sie auch in der realen Situation sich nicht bewegten.

Der FDP-Abgeordnete Hahn fragte Trafford, was man jetzt mit diesem Ergebnis seiner Untersuchung anfangen solle. Trafford führte hierzu erneut aus: Die StA Hanau hätte die Ermittlungen zum Notausgang eingestellt mit der Begründung, dass erstens nicht sicher sei, dass der Notausgang verschlossen war. Zweitens nicht sicher sei, dass der Notausgang erreicht worden wäre und drittens nicht sicher sei, ob die Opfer dorthin gerannt wären. Nur der zweite Punkt sei Gegenstand ihrer Untersuchung gewesen. Hier hätten sie aufgezeigt, dass die Opfer überlebt hätten, wäre der Notausgang offen gewesen und wären sie hierhin gerannt. Wie mit diesem Gutachten die Einstellung durch die StA zu bewerten sei, sei der Job des Ausschusses.

Nach vier Stunden endete die Befragung Traffords. Neben einer Reihe berechtigter Fragen zur Methodologie der Untersuchung ging es überraschend lange um den Ansatz der Untersuchung, wozu sich der Zeuge immer wieder wiederholen musste, was das Gutachten leiste, und was nicht, sodass der Eindruck entstand, dass sich nicht alle Abgeordneten genau hiermit auseinander gesetzt hatten. Auch einige Fragen, warum der Versuch nicht mit Personen nachgestellt wurde oder Fragen zur Wahrscheinlichkeit schienen eher naiv und wiesen fehlende Kenntnisse wissenschaftlich zulässigen Vorgehens auf. Zudem fiel insbesondere der Obmann der CDU-Fraktion Müller immer wieder durch respektloses Verhalten auf, etwa wenn er mehrmals direkt hintereinander während der Befragung des Zeugen des Saal verließ oder sich lauthals mit Kolleg*innen während der Befragung unterhielt. Scheinbar versuchte Müller dem Sachverständigem auf diesem Wege kindisch zu zeigen, was er von dessen Untersuchung hielt.

Mitarbeiter Arena-Bar: »Der Notausgang war zu«

Als zweiter Zeuge wurde Adil E. M. befragt, der ab April 2017 für einige Monate in der Arena-Bar arbeitete. Er berichtete, dass in seiner Zeit dort der Notausgang immer verschlossen sein musste. Wenn er den Müll raus brachte, hätte er den Notausgang aufschließen und danach wieder abschließen müssen, sonst hätte er Ärger mit seinem Chef bekommen. Auch in der Zeit davor und danach, wenn er selbst als Gast in der Bar war, sei der Notausgang immer verschlossen gewesen. E. M. wiederholte sich immer wieder, »dass der Notausgang zu war, dass der Notausgang zu war. In der Zeit war der immer zu, zu«.

Einen Grund für den verschlossenen Notausgang sah E. M. in den Razzien, die regelmäßig in der Arnea-Bar wegen Jugendschutz durchgeführt wurden, manchmal zweimal am Tag. Oft von Polizei und Ordnungsamt gemeinsam, manchmal auch einzeln. Immer seien die Polizisten in die Bar rein und hätten die Jugendlichen nach den Ausweisen gefragt. Nachdem mal nach einer Razzia einige Jugendliche durch Fenster geflüchtet seien, seien die Fenster 2-3 Tage danach grundsätzlich abgeschlossen gewesen. Der Zeuge erinnerte sich auch an eine Razzia, wo ein Jugendlicher versuchte, durch den Notausgang der Bar zu fliehen. Einer der Polizisten hätte sich keine Mühe gemacht ihn einzuholen sondern sei ganz langsam ihm hinterhergelaufen, so als ob der Polizist gewusst hätte, dass der Notausgang verschlossen war. Der Betreiber habe ihm auch mal direkt gesagt, dass der Notausgang auf Anweisung der Polizei zu bleibe, damit die Jugendlichen bei Razzien nicht abhauen könnten.

In der anschließenden Befragung kam wenig Neues heraus, zwischenzeitlich war es jedoch recht hitzig. Der Abgeordnete Müller warf dem Zeugen vor, zu lügen, und zog seine Aussage in Zweifel, da der Zeuge laut dem Betreiber angeblich mit Drogen erwischt worden sei, was dieser verneinte. Er sei entlassen worden, weil er mehr Geld vom Betreiber haben wollte, nicht wegen Drogen.

Als nächster Zeuge war Cuma P. Geladen, der Stammgast in der Arena-Bar war und die Bar am Tatabend kurz vor dem Anschlag verlassen hatte. Er habe in Hanau-Kesselstadt gelebt und dort gäbe es als Aufenthaltsmöglichkeiten nur das JUZ und die Arena-Bar. Das JUZ machte aber abends zu, daher sei er seit er 18 war immer in der Arena-Bar gewesen. Er bestätigte die Vielzahl an Razzien, die es in der Arena-Bar von Polizei und Ordnungsamt oder beiden getrennt gab. Ebenfalls bestätigte er, dass der Notausgang fast immer zu war. Drei- oder viermal Mal sei es vorgekommen, dass die Mitarbeitenden vergessen hatten abzuschließen, ansonsten sei der Notausgang immer verschlossen gewesen. Er habe den Betreiber Ömer G. auch mal darauf angesprochen, der habe ihm klar und deutlich gesagt: »Ich habe den Befehl von der Polizei bekommen, dass der Notausgang zu bleiben soll«.

Sachverständige: Menschen handeln auch in Katastrophensituationen rational

Anschließend wurde die Sachverständige Prof. Dr. Brigitta Sticher befragt, die als Professorin für Psychologie Polizisten des höheren und gehobenen Dienstes ausbildet. Ein Thema dabei sei »Psychologie in besonderen Einsatzlagen« und Katastrophenmanagement. Sie war als SV in den Ausschuss geladen, um zu berichten, wie sich Menschen in Krisensituationen verhalten und konkret, wie sich die Personen in der Arena-Bar hätten verhalten können, wäre der Notausgang offen gewesen und hätten sie dies gewusst. Hierzu wurde ihr kurz ein Video der Überwachungskamera aus der Arena-Bar vom Tatabend gezeigt. Sie berichtete, dass man als Laie zwar häufig davon ausgehe, dass man in einer solchen Situation sofort in Panik verfalle, dies aber in der Realität nicht so sei. Panik komme eher erst auf, wenn es keine andere Möglichkeit der Flucht gebe. Das hieße, man handele nicht kopflos in einer solchen Situation sondern schalte sehr schnell den Kopf ein und überlege, wo mögliche Fluchtwege seien. Man würde allerdings nicht unbedingt auf den Täter zu rennen, sondern eher von ihm weg. Man greife auch auf eine Art Herdeninstinkt zurück, nachdem man dahin laufe, wo eine Person hinrennt der ich vertraue und denen sie emotional verbunden sind. Im Kopf laufe im Bruchteil von Sekunden eine Abwägung statt, wie man sich vom Täter wegbewegt, was es für Fluchtmöglichkeiten gebe und was die anderen Personen machen.

Zur konkreten Situation in der Arena-Bar konnte die Sachverständige jedoch keine Angaben machen, da ihr die Videoaufnahme von der Tat erst in der Sitzung kurz gezeigt wurde und sie auch im Vorfeld keine Skizze der Räumlichkeiten oder ausführliche Infos zur Tat hatte. Sie unterstrich aber immer wieder, dass Menschen in so einer Situation nicht in Panik verfallen sondern durchaus fähig sind, rational abzuwägen, wo das geringste Risiko besteht. Wenn die Personen in der Bar gewusst hätten, dass der Notausgang offen gewesen wäre, wäre dies eine der Optionen, die sie abgewogen hätten, so Sticher.

Staatsanwaltschaft beschloss ohne Gutachten, dass Betroffene nicht zum Notausgang gerannt wären

Als letzter Zeuge der Sitzung, mit vier Stunden Verspätung, wurde der Hanauer Staatsanwalt Martin Links befragt. Er stellte das Ermittlungs­verfahren wegen des geschlossenen Notausgangs in der Arena-Bar im Sommer 2021 ein. Eingangs berichtete er, wie ab Ende 2020 Ermittlungen hierzu führte, ob ein pflichtwidriges Verhalten des Betreibers dazu führte, dass zwei Menschen in der Arena-Bar starben, weil sie nicht zum Notausgang gelangen konnten und zweitens, ob die Polizei eine Mitschuld hieran hatte durch Absprachen mit dem Betreiber. Hinweise auf solche Absprachen hätte die StA aber nicht feststellen können, so Links. Trotz der klaren Zeugenaussagen, dass der Betreiber mehren Personen gegenüber solche Absprachen erwähnte, seien sie zu dem Schluss gekommen, dass das Gegenteil der Fall sei, weil es nach zwei Razzien auch Beschwerden über den verschlossenen Notausgang oder Versuche gab, dem Betreiber die Konzession zu entziehen.

Links führte aus, dass sie nicht zweifelsfrei hätten feststellen können, ob die Notausgangstür in der Tatnacht verschlossen war oder geklemmt hat. Beides sei ein Verstoß, so Links. Dies sei hier jedoch gar nicht die relevante Frage. Denn sie als Staatsanwaltschaft wären zu dem Schluss gekommen, dass aus ihrer Sicht es »nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit« feststellbar sei, dass die verletzten und getöteten Betroffenen zum Notausgang gerannt wären. Wenn sie Anklage erhoben hätten, müssten sie zu 100% hiervon überzeugt seien, so Links. Das seien sie jedoch nicht gewesen, so Links. Er sei auch nach hundertfachem Anschauen der Videos nicht sicher, dass die in der Bar anwesenden Personen auch zum Notausgang gerannt wären. Daher hätte er die Verantwortung nicht auf sich nehmen können, hierfür jemanden anzuklagen, aufgrund dieser »erheblichen Restzweifel«.

Auch die Aussage der Überlebenden, dass sie zum Notausgang hingerannt wären, wenn sie gewusst hätten, dass dieser offen gewesen wäre, hätte daran nichts geändert. Links unterstellte den Überlebenden hier, sich »kollektive Erinnerungen« gebildet zu haben, die sich mit den ersten Aussagen teilweise widersprachen. Auf die Frage, wie er zu der Einschätzung gekommen sei, dass die in der Bar Anwesenden nicht zum Notausgang liefen, antwortete Links, dass er und mehrere Kollegen sich die Videos angeschaut hätten und alle zu dem Schluss kamen, dass sie Restzweifel hatten, ob die Getöteten und Überlebenden wirklich zum Notausgang gelaufen wären. Ein Sachverständigengutachten zu der Frage, ob ihre Einschätzung wirklich haltbar wäre, hätten sie als Staatsanwaltschaft nie in Erwägung gezogen. Der eigene Eindruck von mehreren Staatsanwälten hätte ihnen gereicht.

Über das Gutachten von FA dass die Angehörigen selbst in Auftrag gegeben hatten, gerade weil die StA kein Gutachten hat anfertigen lassen, zeigte sich Links verwundert, dass man sie nicht darüber informiert hatte. Und weiter: »Wenn wir etwas bekommen hätten, was uns dabei hilft, dann hätten wir darauf zugegriffen.« Zu dem Gutachten von FA äußerte Links sich jedoch zudem despektierlich: »Man kann schöne Grafiken erstellen, man kann bunte Bälle über den Bildschirm laufen lassen aber manchmal sollte man sich die Realität anschauen«. Später entschuldigte er sich, falls er damit die Gutachter*innen von FA »madig gemacht« hätte.

Nach über 3,5 Stunden endete die Befragung von StA Links und damit die knapp 13 stündige Sitzung.