3. Sitzung
»Fünf Leute hätten die Chance gehabt, zu überleben«
Am 20. Dezember 2021 fand die dritte öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag zu dem rassistischen Mordanschlag in Hanau am 19. Februar 2020 statt. Es war die dritte Sitzung, in der Angehörige der Opfer aussagten, in dieser Sitzung Said Etris Hashemi, Armin Kurtović und Aziz Kurtović. Auch diesmal organisierte die Initiative 19. Februar Hanau eine Kundgebung vor dem hessischen Landtag, an der sich dutzende Menschen beteiligten.
Der Ausschussvorsitzende Marius Weiß (SPD) eröffnete die Sitzung, indem er darauf aufmerksam machte, dass keine Fotos während Sitzungen angefertigt werden dürfen. Außerdem sollten auf Social Media während der laufenden Sitzung keine Wortprotokolle veröffentlicht und keine wörtliche Rede verwendet werden. Es erfolgte auch ein Hinweis an die Abgeordneten würdevoll aufzutreten, da das Verhalten jedes Einzelnen den gesamten Ausschuss widerspiegeln würde und ein Mindestmaß an respektvollem Umgang mit Zeug*innen erwartet wurde. Hintergrund des letzten Hinweises war, dass einzelne Abgeordnete im Ausschuss in der letzten Sitzung Zeitung lasen oder sich auf ihren Laptops Livestreams ansahen, während vor ihnen Angehörige der Opfer aussagten.
Wir geben im Folgenden die Eingangsstatements der Angehörigen möglichst ausführlich, basierend auf unserer Mitschrift wieder, müssen aber darauf hinweisen, dass es kein exaktes Wortprotokoll ist und es vereinzelt Abweichungen geben kann.
»Wir Opfer wurden zu Tätern gemacht« - Anhörung von Said Etris Hashemi
Der erste Zeuge war der 25-jährige Said Etris Hashemi, er überlebte den Anschlag schwerverletzt. Sein Bruder Said Nesar wurde am 19. Februar 2020 getötet. Seine Befragung befasste sich mit dem verschlossenen Notausgang und dem Einsatz in der Tatnacht, als er sich in der Arena Bar in Kesselstadt befand. Wie alle Angehörigen begann er mit eigenen Ausführungen zu Beginn:
»Ich würde damit anfangen: Ich bin 25, in Hanau geboren und studiere Wirtschaftsinformatik. Wie ich die Tat am 19. Februar selbst erlebt habe: Ich war am zweiten Tatort in Kesselstadt in der Arena Bar. Sie ist ein Treffpunkt, bietet Wärme in Winter, wenn das JUZ [Anm. Jugendzentrum] zumacht treffen sich Jugendliche in der Arena Bar. Ich kann mich gut erinnern, einige hatten Essen bestellt, saßen in einer Art Sitzkreis, als das Essen ankam und die Jungs gegessen haben, hat man schon den ersten lauten Knall draußen gehört. Ich habe rausgeschaut und geguckt und wunderte mich. Ich wollte nachschauen ob alles in Ordnung ist, als ich Richtung Notausgang lief kam der Täter rein.
Er ist mit Waffen in Richtung Kiosk gegangen, ich habe mich zu den Jungs umgeschaut und die wussten was Sache ist. Es gab nur zwei Optionen: Der Notausgang oder hinten in der Bar. Jeder wusste, dass der Notausgang zu ist. Wir sind also nach hinten, haben uns versteckt. Der Täter kam rein und hat geschossen, es hat für mich kein Ende gefunden. Einige wurden getroffen, es kam zu Schubsereien, sie sind über die Theke gefallen, ich habe mich unter die Theke gerollt. Das eine woran ich dachte war mein Handy und die 110 anrufen, aber ich bin nicht durchgekommen. Ich habe es wieder versucht, bin wieder nicht durchgekommen, ich habe dann die 112 angerufen und bin durchgekommen.
Ich habe aufgelegt, nachdem ich sie zum Kurt-Schumacher-Platz 10 gerufen habe. Mein Handy war voller Blut, ich wusste selbst nicht, wie ich getroffen wurde. Ich bin dann zu Momo, der an Schulter getroffen wurde. Ich habe mir an den Hals gegriffen und gesehen, da war alles voller Blut, habe einen Pulli gefunden und Momo auf die Wunde draufgehalten, Piter kam rein und hat Momo rausgezogen. In dem Moment war ich sicher ich würde sterben und lag da alleine, ich dachte mir, es sei nutzlos, auf den Tod zu warten und wollte dann noch jemandem helfen. Ich bin rum um die Ecke, habe Hamza
Kurtović gesehen, doch er war tot. Momo und Piter wollten weg, ich habe sie zurückgerufen. Ich bin dann in den Kiosk, doch dort war auch jede Hilfe zu spät. Dann habe ich den silbernen Mercedes gesehen, für Vili kam auch jede Hilfe zu spät. Es kamen Anwohner und mehr und mehr Menschen, irgendwann kamen die ersten Polizisten. Ich war dann der erste den die Polizei auf dem Parkplatz getroffen hat.
Die beiden jungen Polizisten waren vollkommen überfordert, der eine hat mich nach meinem Personalausweis gefragt, der andere meinte er hätte sowas noch nie erlebt. Ich hab dann beide beruhigt und ihnen gesagt sie sollen meine Wunde zuhalten. Ich habe ihnen meine Ausweise gegeben, habe mich bei Vilis Auto angelehnt und dann gewartet, dann kam eine Streife nach der anderen. Irgendwann war alles voller Polizei. Ich habe die Polizei gefragt, warum kein Rettungswagen kommt, einer meinte wenn geschossen wird kommt in Deutschland erst mal die Polizei. Irgendwann kamen drei Rettungswagen. Einer ist zu Vili und meinte er hat noch Puls, dann meinten sie er sei bereits hirntot. Dann sind sie zu mir. Sie meinten es sei ein Schuss am Hals, haben mich untersucht, fanden aber keine Austrittswunde. Sie haben noch geguckt, ob ich woanders getroffen wurde. Eine Sanitäterin hat versucht mich zu behandeln, dann kam eine Trage und sie haben mich auf die Trage getan. Ich lag aufrecht auf ihr, dann schrie jemand der Täter sei zurück und sie haben mich dann Richtung Arena Bar gedreht und sich hinter mir versteckt. Ich lag halb nackt auf der Trage, neben mir waren Autos aber sie haben sich hinter mir versteckt. Ich habe ihnen dann gesagt, dass der Täter nicht zurück sei. Die Seitentür wurde aufgemacht, ich kam in den Rettungswagen und es wurde uns gesagt: keiner fährt hier los, bevor die Situation nicht aufgeklärt sei. Die Sanitäter meinten, er müsse aber ins Krankenhaus, es wurde wiederholt: hier fährt keiner los. Selbst die Sanitäter waren überfordert, sie meinten wir müssen direkt ins Krankenhaus. Irgendwann ist der Krankenwagen dann Richtung Klinikum los.
Mir kam es vor wie im Film. Ich wurde in eine Art Schockraum gebracht mit 20 Ärzten um einen Metalltisch herum, einer hat mit mir geredet, die andere gaben mir Spritzen. Ein Arzt sagte mir, wir schicken dich jetzt schlafen und ich dachte endlich schickt mich jemand schlafen, dass es vorbei ist.
Ich bin zwei Tage später in der Uniklinik aufgewacht. Dann war ich auf der Intensivstation der Uniklinik und habe mich relativ schnell erholt. Ich wollte so schnell wie möglich raus, die Intensivstation war für mich die Hölle auf Erden, ich musste Laufen und Sprechen neu lernen, musste lernen wieder ich zu sein. Ich wurde dann nach Hanau verlegt, war dort drei Wochen stationiert. Ich war keine zwei Stunden zu Hause, da habe ich dann einen Anruf von Frau Bodenstädt, der Migrationsbeauftragten, erhalten. Sie fragte mich, ob ich vor zwei Tagen in einer Polizeikontrolle gewesen war, ich sagte: nein, das kann nicht sein. Dann war es das auch mit dem Gespräch. Sie hat dann später nochmal angerufen, hat zum Beispiel nach Codes für das Handy von mir und meinem Bruder gefragt. Ich habe gefragt warum, sie meinten zur Identifizierung der Handys, aber ich wollte ihnen den Code nicht geben. Es gab dann auch einen Anruf von ihr an meine Schwester, sie sagte, dass es ihr Job sei uns zu sagen, dass der Vater des Täters zurück sei und wir nichts machen sollten. Ein halbes Jahr später haben wir aus den Medien erfahren, dass die eigentliche Gefahr vom Vater ausgeht. Wir Opfer wurden zu Tätern gemacht. Uns hat keiner angerufen und gesagt, dass wir in Gefahr sind, dass da noch jemand rumläuft. Wer beschützt eigentlich wen hier in Deutschland?«
Nach seinem Eingangsstatement wendete sich Said Etris Hashemi an den Ausschussvorsitzenden Weiß und übergab Umschläge an alle Abgeordneten mit dem Gutachten von Forensic Architecture betreffend der verschlossenen Tür in der Arena Bar. Das Gutachten geht der Frage nach: “Hätten die fünf Personen in der Arena Bar, genug Zeit gehabt durch den Notausgang zu entkommen?« Das Gutachten umfasst eine zeitgenaue Rekonstruktion des Tathergangs am zweiten Tatort und kommt zum Schluss, dass es extrem wahrscheinlich sei, dass alle fünf Personen genug Zeit gehabt hätten durch den Notausgang zu entkommen. Weiß unterbrach den Zeugen jedoch, da seine mitgebrachten Unterlagen noch kein offizielles Beweisstück wären, diese müssen von den Fraktionen beantragt werden. Deshalb sei es schwierig an diesem Tag darauf Bezug zu nehmen bzw. alle Nachfragen diesbezüglich zu beantworten. Der Vorsitzender Weiß schlug vor man könne die Verfasser*innen des Gutachtens laden, da der Zeuge dieses nicht verfasst hat.
Said Etris Hashemi führte weiter aus: »Ich bin vollkommen einverstanden damit, nochmal eingeladen zu werden, ich wollte auch nicht alle 20 Seiten vorlesen, sondern nur zusammenzufassen. Auf Seite fünf zum Beispiel finden sich unsere Zeugenaussagen zum Notausgang. Wie Sie sagten, das Gutachten ist von Forensic Architecture, wir haben sie beauftragt den Ablauf zu rekonstruieren.« Herr Hashemi stellte das Gutachten weiter auszugweise vor: Für die Analyse und Rekonstruktion der Laufpfade der Personen in der Arena-Bar seien detaillierte Pläne der Räume zu Grunde gelegt worden. Den Ablauf nach dem Gutachten stellt er so vor: »Um 22:00:06 steigt der Täter aus dem Fahrzeug, der Täter schießt, ich sehe den Täter, er betritt die Bar, drei Sekunden später schießt er. Anschließend verlässt der Täter die Bar wieder. Die Frage, die sich stellt, ist: Wenn einer oder mehrere Personen in diesen neun Sekunden zum Notausgang gerannt wären, hätte diese Zeit dann zur Flucht gereicht?« Nach einige Ausführungen zur Methode, den Berechnungen und Ergebnissen der Untersuchung (der Bericht von Forensic Architecture kann hier eingesehen werden), stellte Said Etris das Fazit der Untersuchung vor: »Wenn der Notausgang offen gewesen wäre und die fünf jungen Männer zum Notausgang gelaufen wären, wären vier der fünf Personen außerhalb des Sichtfeldes und eine Person nur für den Bruchteil einer Sekunde im Sichtfeld gewesen. Alle fünf Personen hätten genügend Zeit um zu entkommen, entgegen der Aussagen der Staatsanwaltschaft Hanau. Die wichtigste Frage ist, ob der Notausgang wirklich versperrt war und wie es dazu kam? Meine Damen und Herren, Sie können im Anschluss alles auf dem USB-Stick anschauen. Ich bin damit nun fertig und stehe für ihre Fragen zur Verfügung.«, so Herr Hashemi.
Der Ausschussvorsitzende Weiß dankte dem Zeugen für seine Ausführungen und erkundigte sich nach seinem Befinden. Said Etris Hashemi berichtete daraufhin von seiner zweiten Schulteroperation vor ein paar Monaten. Er wird einen bleibenden Schaden davon tragen, mache aktuell sehr viel Sport, kann aber nach wie vor nicht seiner Leidenschaft, dem Boxen, nachgehen. Durch die ihm zugefügten Verletzungen am Hals leidet er noch immer an Geschmacksstörungen, auch seine Zunge funktioniert noch nicht wieder richtig. Er zeigte sich sehr dankbar, an diesem Tag dort stehen zu können, da sich seine Situation im Vergleich zum damaligen Krankenhausaufenthalt eklatant verbessert hatte. Weiter wurde er zum ersten Kontakt mit der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft befragt, der kurze Zeit nach seiner stationären Behandlung erfolgte, zuvor wurde das Projektil aus seinem Hals entfernt. Der Kontakt bestand aus einem Telefonat. Psychologische Unterstützung wurde ihm im Krankenhaus angeboten, die er jedoch nicht in Anspruch nahm. Später war er bei mehreren Therapeuten, es war aber schwer für ihn jemanden zu finden, der seine Situation verstand. Finanzielle Unterstützung kam am Anfang vom Bund.
Der nächste Punkt in der Befragung betraf den Anruf der Migrationsbeauftragten der Polizei, nachdem der Vater des Täters wieder zurück in Hanau war. Weiß fragte nach dem genauen Wortlaut des Gesprächs und ob es für den Zeugen als eine Art Gefährderansprache (also eine proaktive Ansprache der Polizei an Personen, denen die Polizei unterstellt möglicherweise eine Straftat begehen zu wollen) verstanden wurde. An die genaue Wortwahl konnte sich Herr Hashemi nach so langer Zeit nicht mehr erinnern, aber es wirkte für ihn tatsächlich als würde man ihn als einen Gefährder einstufen.
Die weitere Befragung drehte sich um die Frage wie der Zeuge feststellen konnte, im Kiosk niemand mehr helfen zu können, ob er zum Beispiel den Puls der verletzten Personen gefühlt hatte. Er schilderte erneut die Situation wie er den Kiosk betrat, alles voller Blut war. In dem Moment war er überfordert, aber aufgrund von dem was er gesehen hat, musste er annehmen niemanden mehr helfen zu können. Auf die Frage wann er das Handy von seinem Bruder und sein eigenes zurückbekam, gab der Zeuge an, dass er sehr lange darauf warten musste und auch nicht verstanden hat wieso. Erst drei bis vier Monate später konnte er sein Handy abholen, es war noch immer blutverschmiert. Bei seinem Handy waren alle Daten noch drauf, das Handy seines Bruders wurde anscheinend in die Werkseinstellung zurückversetzt und damit alle Daten darauf gelöscht. Warum hat man nie erklärt. Lediglich die Migrationsbeauftragte der Polizei Frau B. meinte ihm gegenüber, man wollte nachschauen ob der Täter in Verbindung zum späteren Opfer stand.
Auf Nachfrage wie wegen der Obduktion mit ihm und der Familie umgegangen wurde, gab Herr Hashemi an, zu dem Zeitpunkt noch im Krankenhaus gewesen zu sein. Er hat damals nicht viel davon mitbekommen aber es gab keine Erklärung für das Vorgehen. Irgendwann erhielten sie noch einen Anruf wo es hieß sie seien jetzt fertig mit der Obduktion.
Zum versperrten Notausgang befragt, erklärte der Zeuge, dass der Hinterausgang ab und zu als Abkürzung genutzt wurde, wenn er nicht verschlossen war. Er selbst habe gesehen, dass sie Tür abgeschlossen wurde. Es gab öfter Razzien in der Arena Bar, er schilderte einen Vorfall, von dem er gehört hatte: Eine Person sei bei einer Kontrolle durch Ordnungsamt oder Polizei mal über den Notausgang über den Parkplatz gelaufen, ein Polizist hinterher, letzterer fiel dabei über eine Absperrkette am Parkplatz. Danach wurde dann der Notausgang versperrt. Außerdem merkte Herr Hashemi an, dass bei seiner Aussage beim BKA nicht protokolliert wurde, dass er bereits damals über den versperrten Notausgang berichtet hatte. Er hat das auch im Nachhinein angemerkt, aber bis heute wurde dieser Umstand nicht korrigiert. Von der FDP wurde er erneut gefragt, ob er wusste ob der Notausgang tatsächlich versperrt war, schließlich hätten sie es an dem Abend nicht ausprobiert. Der Zeuge hielt fest, dass allen klar war, dass der Ausgang auch an diesem Abend verschlossen war.
Von der SPD erfolgten Nachfragen zur ärztlichen Versorgung am 19. Februar 2020. Said Etris Hashemi schilderte wie überfordert die Sanitäter vor Ort waren, sie haben ihr Bestes gegeben, später trafen zwei Polizisten ein, auch diese haben versucht zu helfen. Er fragt sich aber bis heute: »Wenn man sich in so einer Situation nicht auf die Rettungskräfte verlassen kann, auf wen dann?«
Gefragt was verbesserungswürdig im Umgang mit Überlebenden und Hinterbliebenen wäre, sprach der Zeuge die nicht optimal gelaufene Kommunikation an. Es waren zu viele Behörden, zu viele Stellen wo man sich hinwenden musste. Diese Bürokratie war nicht handelbar für Einzelpersonen, ohne Hilfe von anderen hätte das keiner von ihnen geschafft.
Vom SPD-Abgeordneten Yüksel zum Notruf gefragt, den er mehrfach anrief, merkte der Zeuge an sich nicht mehr erinnern zu können, wie lange es gedauert hat, bis die Polizei kam. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, die er warten musste. Die Frage, ob er per Telefon Handlungsanweisungen bekam, verneinte der Zeuge. Er berichte damals am Notruf, dass geschossen wurde, gab die Adresse durch und sagte, dass es Tote und Verletzte gibt.
Zur Situation auf der Trage befragt, führte er erneut aus das er in dem Moment aufrecht saß, jemand rief, dass der Täter zurück wäre und man dann die Trage, auf der er sich befand in Richtung der Arena Bar drehte, um sich dahinter in Sicherheit zu bringen, während er sich weiter, ohne Schutz, auf der Trage befand. Es dauerte sehr lang bis der Krankenwagen den Ort verlassen durfte und mit dem schwer verletzten Zeugen ins Krankenhaus fahren konnte. Auf die Frage vom Obmann der CDU Müller, ob zuvor lebensbedrohliche Verletzungen festgestellt wurden, gab er an, dass man seine Halswunde inspizierte, die Kugel noch in seinem Körper steckte und er zwar noch selbstständig atmen konnte, sich sein Zustand aber von Minute zu Minute verschlechtert habe. Die Ärzte sagten ihm später er habe extrem viel Glück gehabt, wäre er wenige Millimeter weiter oben getroffen wurden, wäre es für ihn ganz anders ausgegangen.
Turgut Yüksel von der SPD wollte danach noch einmal wissen, ob der Zeuge sich vom Vater des Täters bedroht fühle. Für Said Etris Hashemi stellt dieser sogar eine größere Gefahr dar, denn er habe keine Familie mehr, er hätte nichts mehr zu verlieren. Die Ideologie des Vaters und seines Sohnes, der am 19. Februar den Zeugen schwer verletzte, sind nicht zu unterscheiden, führte Etris fort. Auf Nachfrage, warum er denn gefährlicher sei, so ohne Waffen, entgegnete der Zeuge, dass man heutzutage nicht unbedingt zur Schusswaffe greifen muss um gefährlich zu sein, man kann auch ein Auto als Waffe einsetzten. Dem Zeugen und seiner Familie wurde keinerlei Schutz angeboten, dem Vater des Täters jedoch schon. Dem Vater, der offen Drohungen ausgesprochen hat, der nach wie vor frei rumläuft. Dieser Umstand warf große Zweifel beim Zeugen hervor.
Auf Nachfrage der Grünen Abgeordneten Gronemann führte Herr Hashemi noch aus, dass man nicht vorab, sondern erst durch die Presse darüber informiert wurde, dass der GBA die Ermittlungen einstellte. Am selben Tag kam auch eine E-Mail seines Anwalts, aber erfuhren hat er es durch die Presse. Einige Zeit vorher [Anm.: Damit ist eineinhalb Jahre vorher gemeint], habe es ein Gesprächsangebot vom GBA an die Angehörigen in Hanau gegeben, das habe man auch wahrgenommen, aber da wurden keinerlei Fragen beantwortet.
Zum Abschluss seiner Befragung machte er noch einmal deutlich, dass die Angehörigen und Überlebenden verlangen, dass die Tat aufgeklärt wird: »Wir Angehörigen legen sehr viele Hoffnungen in diesen Untersuchungsausschuss. Wir haben mit vielen Leuten in Hessen gesprochen, uns wurden viele Steine in den Weg gelegt und wir haben Hoffnung, dass aufgeklärt wird, was vor, während oder nach der Tat passiert ist. Zum Thema Notausgang haben wir ein Gutachten vorgelegt, fünf Leute hätten die Chance gehabt zu überleben. Außerdem möchte ich dem Parlament nahelegen, dass was Rassismus angeht, auch den behördlichen Rassismus, die Menschen in diesen Berufen geschult werden müssen. Wie vor allem die Polizei mit Menschen umzugehen hat, auch nach so einem Anschlag, da gibt es viel Nachholbedarf: Ich kann sehr viel davon erzählen, was den Umgang mit der Polizei angeht. Wie soll ich jemanden als Freund und Helfer ansehen, der mich auf der Straße halb nackt auszieht, obwohl ich nichts getan habe?«
»Wieso schickt man mir eine Migrationsbeauftragte, die mir erklärt, dass in Deutschland Blutrache verboten ist?« - Anhörung von Armin Kurtović
Nach der ersten Befragung erfolgt eine längere Pause. Gegen 13.20 Uhr wurde die Sitzung mit der Aussage von Armin Kurtović, dem Vater des getöteten Hamza Kurtović, fortgesetzt. Er wurde als Zeuge zum Beweisantrag 7 geladen um über die Komplexe: Notausgang, Täterhaus, den Umgang in der Nacht, sowie der Obduktion zu berichten. Er kam in Begleitung seines Rechtsbeistandes und seiner Tochter Ajla Kurtović. Zu Beginn verteilte er mitgebrachte Ordner an die Obleute des Ausschusses und wendete sich an die Anwesenden mit der Bitte, dass er zu Beginn gerne von sich aus ein paar Dinge sagen möchte:
»Fangen wir direkt mit der Tatnacht an. Am 19.2 hat mir jemand eine Nachricht auf WhatsApp geschrieben, es gab eine Schießerei in der Stadt, es ging schon durch die Presse. Ich habe meine Kinder angerufen. Mein anderer Sohn hat mir geschrieben, dass die Schießerei nicht in der Stadt war, sondern in Kesselstadt. Ich wollte sofort hin, um zu sehen was da los ist, nicht aus Neugier. Überall war Polizei, es war abgesperrt, ich bin um die Arena Bar herum, habe die Einschusslöcher gesehen. Wo ist Hamza, habe ich gefragt. Gökhan, Mercedes und Ferhat liegen im Kiosk und sind tot, meinte jemand. Irgendwann kam ein Polizist aus dem Gebäude, ich meinte ich suche mein Kind. Der Beamte sagte nur »so einer liegt da nicht drin«, in dem Moment habe ich gesehen, wie sie ihn rausgetragen haben. Aber er war komplett abgedeckt, ich wusste nicht, dass er es ist, sonst wäre ich dem Krankenwagen hinterhergefahren. Und irgendwie nach gefühlten 20-30 Minuten, ich bin da rumgelaufen wie ein kopfloses Huhn, da hat mich mein älterer Sohn angerufen, Hamza ist im Krankenhaus, er hat einen Schuss abbekommen. Ich bin dann nach Hause, habe meine Frau abgeholt und wir wollten ihn im Krankenhaus suchen. Ich bin nur bis zur Kirchhoffstraße gekommen, da stand viel Polizei. Sie meinten: ‚Hier ist abgesperrt, da kommen Sie nicht vorbei‘. Wir sind ins Stadtkrankenhaus gefahren, danach zum St. Vincent Krankenhaus. Da war dann auch der Momo, da standen schon ein paar Leute davor. Sie meinten der Hamza war nicht hier, nur der Momo. Ich habe dann die BG Unfallklinik Frankfurt angerufen. Die Frau am Telefon meinte, hier sei ein Schwerverletzter der Schießerei in Hanau eingeliefert worden, sie wisse aber nicht wer.
Wir sind dann zur Polizei gefahren, die haben uns weggeschickt. Welcher normale Mensch fährt dann nach Hause? Wir sind zurück gefahren zum Tatort, dort haben sie uns in einen Stadtbus reingesetzt, meinten wir sollten warten, sie würden die Informationen sammeln, später haben sie uns zur Turnhalle in Hanau-Lamboy gefahren. Da wurden unsere Namen aufgenommen und gefragt, wen wir suchen. Ich habe das denen gesagt. Wir sollen uns gedulden, die sammeln die Informationen, hieß es. Gegen halb drei kam ein Beamter rein, der gleiche der später die Nachricht überbrachte, hat uns durchgerufen. ‚Wer sind sie?‘, fragte er. ‚Ich bin der Vater‘ sagte ich. ‚Bleiben sie kurz sitzen‘. Dann kam ein Seelsorger, der hat versucht Gespräche aufzubauen: ‚Alles wird gut, bleiben Sie sitzen, alles wird gut‘. Gefühlt alle halbe Stunde bin ich vor gelaufen, wollte wissen in welchem Krankenhaus mein Sohn ist. ‚Wir sammeln Informationen, wir warten auf Rückmeldung‘ hieß es dann immer. Gegen halb sechs: Nur zum Verständnis es waren zwei Kripobeamte, die immer da waren. Der Streifenwagen ist auf dem Weg ins Krankenhaus, um den Verletzten zu identifizieren, hieß es. Aber mein Sohn war schon tot. Um halb sieben kam ein Polizist dann rein und hat angefangen, die Namen zu verlesen. Meine Frau ist umgekippt. Ich habe gefragt, ob sie einen Notarzt rufen können, doch sie meinten es sei eine reine Kopfsache, das müsse raus. Sie haben uns drei Hotlines in die Hand gedrückt, wir sollten um acht beim Informationszentrum anrufen, die würden uns dann mehr sagen.
Niemand hat gefragt, ob wir in der Lage sind Auto zu fahren. Ich musste selbst die Hausärztin anrufen, damit sie meiner Frau und Kindern Spritzen und Tabletten gibt, ich musste bei klarem Kopf bleiben. Um halb elf kam der Rückruf der Migrationsbeauftragten. Sie wusste nicht wo die Leiche sei, sie wisse gar nichts, GBA und BKA haben das übernommen. Sie kümmere sich drum. Am Sonntag ist dann das BKA zu uns gekommen, in Begleitung eines Kripobeamten, der dolmetschen sollte. Wozu über den Ausländerbeirat ein Dolmetscher organisiert wurde, habe ich mich gefragt. Wann ist man Deutsch in dem Land? Muss ich Müller heißen oder Schmidt, muss ich blond sein? Das frage ich mich heute noch.
Ich fragte die Polizei: ‚Sagen sie mir bitte, hat der bewaffnete Vorfall am JUZ [Anm.: Jugendzentrum] etwas mit dem Täter zu tun?‘ Sie haben sich komisch angeguckt, dass ich sowas gesagt habe. Er hat es sich aufgeschrieben, dann sind sie wieder gegangen. Am Montag kamen die Migrationsbeauftragte und der Bundesopferbeauftragte Franke zusammen. Er hat uns aufgeklärt, was für Rechte wir haben, es gäbe die Soforthilfe für Opfer terroristischer Gewalt, dann ist er gegangen.
Wir haben immer dieselbe Frage gestellt, wo ist Hamza? Bevor sie ging, meinte sie meine Tochter, solle eine E-Mail schreiben mit den Fragen. Wir wollten sehen, dass er tot ist, wollten seine Leiche sehen, um es zu verarbeiten. Bei meiner Frau wurden falsche Hoffnungen geweckt und ich fragte mich: ist er nur noch Hackfleisch oder wieso dauert das so lang?
Dienstag Morgen 8 Uhr haben wir einen Anruf bekommen von einem Polizisten. Er hat gefragt, wie mein älterer Sohn heißt und wann das am JUZ geschehen ist. Ich weiß es nicht, 2,3,4,5,6 Jahre. Ich sagte: ‚Sie sollen aufklären, was da los war‘… Beamte kamen, haben uns auf dem Ipad eine Karte gezeigt und gefragt, was genau war. Ich habe es erklärt. Dann hat die Migrationsbeauftragte nochmal gefragt, welche Beamte genau da waren. »Ich muss es wissen«, sagte sie. Die zwei Beamten hatten einen Aktenordner dabei, haben immer wieder vom 18. Mai 2018 gesprochen.
Am Dienstag Abend kam dann der Anruf wegen der Leichenfreigabe. Von der Migrationsbeauftragten kam der Anruf. Die Leiche ist freigegeben, aber nur für einem Bestatter, nicht für uns Angehörige. Ich habe nicht verstanden, wieso ich nicht mitfahren darf. Am darauffolgenden Tag musste ich zum Friedhof, an dem Tag habe ich überhaupt erst mitbekommen, dass er in der Gerichtsmedizin liegt, ich dachte er läge im Krankenhaus. Mittwoch bin ich zum Friedhof, das Grab war schon ausgehoben. Da wollte ich ihn sehen. Die vom Friedhofsamt meinten wir müssen warten, bis die Bestatter kommen. Der Herr Hashemi war auch dabei. Als ich den Leichensack aufgemacht habe - ich bekomme den Blick bis heute nicht mehr aus dem Kopf, was die mit meinem Sohn gemacht haben. Die Infusionsnadel steckte noch im Arm. Ich habe nicht verstanden, warum sie das gemacht haben. Niemand hat mir gesagt, wie er gestorben ist. Ich habe alles erwartet, nur nicht das, was ich gesehen habe. Dann kam die Beerdigung und dann der Obduktionsbericht. Zwei bis drei Wochen dauerte es, bis der vorläufige kam. Und was ich da gesehen habe, die behaupten die haben mit mir am 19.Februar gesprochen. Mein Sohn ist am 20. gestorben. Wir alle haben erst am 20. um halb sieben erfahren, dass er tot ist. Mit mir hat niemand gesprochen, das ist eine Lüge. Und die Beschreibung der Leiche. Da stand: orientalisch südlich, braune Augen, kosmetisch. Darin steht kein Widerspruchsbewilligter. Wenn ich sehe, dass die den Täter besser behandeln als mein Kind, dann frage ich mich, was ist hier los. Ich weiß nicht, wie oft ich da angerufen habe, und gebettelt habe ihn zu sehen. Muss man erst jemanden kennen, um sein Recht zu bekommen? Muss man das?
Ich habe Boris Rhein anrufen, wollte ihm danken für seine Rede im März im Landtag. Am 24. hat er die Rede gehalten. Da hat er das Problem öffentlich thematisiert. Ich habe ihm alles erzählt, zur Obduktion, Notausgang, Vorfall JUZ, das Gespräch hat über eine Stunde gedauert. Ich habe ihn gebeten, es dem Innenminister genauso weiterzugeben. Er hat es auch gemacht, weil er hat mich ein paar Tage später zurückgerufen und gemeint: der Innenminister wisse alles, die Ermittlungen laufen. Ich bin davon ausgegangen, dass es wahrgenommen wird. Am 14. Mai wurde im Innenausschuss gesagt, Beuth war da, der Bundesanwalt, Franke und Fünfsinn waren auch da. Da habe ich Fünfsinn das erste Mal zu Gesicht bekommen. Sie kamen in den Medienraum und dann sind die in die Innenausschusssitzung. Als sie anfingen dachte ich, was reden die da, das hat mit Hanau nichts zu tun. Organisationen wurden genannt, die mit Hanau nichts zu tun hatten. Da hat er noch von sich gegeben, es gab exzellente Polizeiarbeit. Zu den ganzen Problemen kam kein Wort. Nichts. Wir waren ein bisschen aufgewühlt, dann sind der Fünfsinn und Franke in den Medienraum zurückgegangen. Herr Păun hat sein Handy rausgeholt mit dem Notruf. Es war turbulent, aber der Innenminister kam nicht. Ich hätte mir erwartet, dass er wenigstens eine Minute kommt und fragt. Aber nein, er ist nicht in den Medienraum gekommen, er war einfach weg. Und noch etwas. An dem 14. Mai hat er gesagt »es war am 24.3.2017«, der bewaffnete Vorfall am JUZ. Aber Beamte meinten es war am 18. Mai und am 24. März. Was stimmt jetzt? Die mussten erstmal Akten suchen und als sie zu mir kamen haben sie vom 18. Mai 2018 gesprochen. 2017 oder 2018, das ist schon eine Hausnummer.
Am 25. Mai 2020 hat mein Anwalt einen Termin mit Herrn Fünfsinn gemacht, wir sind zu ihm gegangen, dabei waren Etris Hashemi, mein Anwalt und ich. Wir haben Herr Fünfsinn erzählt, dass dieses Detail mit dem Notausgang nicht aufgenommen wurde bei der Vernehmung. Er [Etris] hat das explizit gesagt, dass der Notausgang verschlossen war und dieser Teil hat gefehlt in der Verschriftlichung. Am 25. Juni 2020 hatten wir ein Gespräch mit dem GBA und BKA in Hanau. Es war ein Gespräch auf Augenhöhe, zu Ermittlungen konnten sie allerdings nichts sagen. Da wurde klar, dass sie nur gegen Täter und mögliche Mittäter ermitteln, sonst ist alles in der Zuständigkeit vom Land Hessen. In der Akte finden sie einen Fragenkatalog von meiner Anwältin vom 6. Juli 2020. Alle Fragen stehen da drin. Es sollte einen weiteren Termin geben, Response hat sich drum gekümmert, mit der Polizei, wo alle Fragen beantwortet werden sollten. Der Termin ist nicht zustande gekommen. Der Termin sollte Anfang Juli sein. Aber ich komme darauf zurück. Ich habe einen Anruf erhalten vom Staatssekretär, zwei bis drei Wochen vor dem Termin mit dem Ministerpräsidenten, was wir uns erhoffen. Man meinte die Presse braucht kein Mensch dabei. Er soll aber offen sein, ich will wissen was passiert ist. Coronabedingt kann der Innenminister nicht dabei sein, hieß es. Ich habe nicht verstanden wieso, warum ist es für 32 Personen möglich aber nicht für 33 inklusive dem Innenminister, das hätte doch keinen Unterschied gemacht.
Uns wurde gesagt, dass es so eine Trauerfeier wie in Hanau noch nie gegeben habe, auf unsere Fragen wurde gar nicht eingegangen, sie wurden relativiert und abgeschmettert. Es ging nicht um das Verhindern der Obduktion, es ging darum, warum ich meiner Rechte beraubt wurde. Wieso wurde in der Akte gelogen, wieso lügen Beamte den Bundesanwalt an? Ich war als Letzter dran, da sagte Ministerpräsident Bouffier zu mir: ‚Ich kenne ihr Gesicht genau, es ist öfter in der Presse als meines, das ist nicht gut‘. Warum es nicht gut ist, hat er nicht gesagt. Dann musste er gehen und war die ganze Zeit nur noch mit seinem Handy beschäftigt. Wir sollten einen Brief schrieben. Den hat er bekommen. Meine Tochter hat ihn geschrieben, der ist auch in der Akte.
Zwei Wochen später kam ein Anruf vom Staatssekretär Bußer, er wolle meine Tochter treffen. Wir haben es so gemacht, dass wir uns an einem ganz neutralen Ort trafen, im Rathaus Hanau am 2. Oktober. Der Herr Bußer, eine Assistentin, meine Tochter und ich. Meine Tochter hat die Fragen direkt gestellt, wir sollten die Fragen nicht schriftlich stellen, dann müssten Anwälte drüber gucken. Wir sollten mündlich fragen. Er wollte sich um einen Termin mit der hessischen Polizei kümmern. So wie wir es mit dem GBA und BKA gemacht haben. Am 23. Dezember kam die Antwort. Das was unser Ministerpräsident schreibt ist nicht richtig, es ist falsch. Das wir den Termin mit der Polizei abgesagt haben. Das ist nicht richtig. In den Gesprächsprotokollen ist zu finden, dass die Landespolizei absagt hat. Warum die das gemacht haben sollen, weiß ich nicht. Im Oktober haben wir dann Strafanzeige wegen dem verschlossenen Notausgang über den GBA eingereicht. Und Fakt ist: Wieso müssen wir Strafanzeige stellen, wenn es doch alle schon wissen? Jeder weiß es aber ich bin gezwungen Strafanzeige zu stellen. Das hat sich mir bis heute nicht erschlossen.
Bei jedem Diskobrand hätten sie von Amtswegen ermittelt, weil es eine Straftat ist. In der Strafanzeige sind 16 Zeugen aufgeführt, die meisten wurden nicht mal angehört. Wieso wurden sie nicht vorgeladen? Sie finden in der Mappe auch eine Skizze der Arena Bar. Denn diese verschlossene Tür hat meinem Sohn das Leben gekostet. Sie müssen nur die Augen schließen und bis neun zählen, dann kommt der Täter. Neun Sekunden.
Der Staatsanwalt in Hanau stellt das ein, weil man nicht mehr feststellen kann, ob der Notausgang verschlossen war oder die Tür nur geklemmt hat. Im Tatortbericht steht sie war verschlossen. Wir hatten das erste Mal Akteneinsicht Mitte Mai. Als ich jeden darauf angesprochen hatte, das war noch bevor wir Akteneinsicht hatten. Ich zitiere aus der Akte: »die zwei Türen waren bei der Tatortaufnahme jedoch verschlossen«, und das waren erfahrene Ermittler, die das geschrieben haben. Vom K11 in Offenbach, die für Morde zuständig sind. Laut dem Gutachten, das sie jetzt vorliegen haben, war die Zeit da, es waren neun Sekunden: ‚Wir sind da nicht hingegangen, weil wir wussten es ist abgeschlossen‘. Kein normaler Mensch geht zu einer abgeschlossenen Tür. Selbst der Barbetreiber hat gesagt er hat die Tür ein paar mal abgeschlossen, damit die Jungs nicht rausgehen zum Rauchen. Wieso sollte man hinten raus, wo man später nicht mehr reinkommt? Das ist unlogisch. Im Einstellungsbeschluss redet nur der Barbetreiber und die Polizei von einer verklemmten Tür, niemand sonst. Für eine verklemmte Tür brauche ich keinen Schlüssel. Ich frage mich, diese ganzen Sachen, die in der Arena Bar vorgegangen sind. Selbst in der Tatnacht hat da unten jemand geschlafen. Ich verstehe es nicht. Und jetzt muss ich ihnen etwas sagen. Eine Woche nach der Beerdigung hatte ich von einem Herren Besuch [Anm.: Kioskbesitzer], der hat uns Sachen erzählt, die er gar nicht wissen darf. Dass der Täter Schulden hatte, dass der Täter in München war und mit der Kreditkarte bezahlt hat. Woher weiß der Mann das? Dessen Name steht in der Akte. Mein Anwalt hat den GBA angerufen, der war völlig überrascht, weil er diese Erkenntnisse noch nicht hatte. Wir haben den GBA drauf angesprochen, das BKA hat verwirrt geguckt, sie wussten nicht ,woher wir das wussten. Der GBA hat uns das bestätigt, ja es stimmt. Woher weiß er das zwei Wochen nach der Tat? Das kann er nur vom hessischen LKA wissen. Wieso erzählen die ihm sowas aber nicht mir? Er hat gesagt, es war geschlossen auf Anordnung der Polizei. Und wenn sie alles wissen, was ich weiß, was soll ich denken, soll die Wahrheit vertuscht werden?
Ich möchte Ihnen noch etwas zitieren aus der Akte und zwar die Zeugenaussage aus dem Polizeibericht. Handelt es sich um eine Tatortaufnahme wie es das K11 durchführt? Wegen der uns da schon bekannten Übernahme durch das BKA und LKA. Da der Täter schon tot war, wurde die Tatortaufnahme nicht so genau aufgenommen, auf Detailtreue wurde verzichtet. Derjenige, der das ausgesagt hat, um 2:30 Uhr wurde begonnen das aufzunehmen und um 5 Uhr wurde sie beendet. Doch der Täter wurde um 4 Uhr tot aufgefunden. Sie werden hinten Briefe finden, die ich geschrieben habe oder besser gesagt schreiben musste, weil sich seit dem 19.2. in Hanau nichts geändert hat. Wir haben dieses Jahr nochmal so einen bewaffneten Vorfall gehabt und da wird der junge Mann noch von der Polizei bedroht und beleidigt [Anm.: es geht um diesen Vorfall]. Das ist in meinen Augen keine Polizei. Für mich zumindest nicht. Gott sei dank hat der Junge sein Handy dabei gehabt und das aufgenommen.
Wir waren in diesem Jahr hier im Landtag zur Trauerfeier, am nächsten Tag behauptet der Innenminister, wir hätten ihn nicht treffen wollen. Das ist nicht wahr. Faeser hat einen Brief verlesen. Ich habe den Bundesjustizminister und Bundespräsidenten getroffen. Von Landesregierung habe ich niemanden getroffen außer den Ministerpräsidenten, nicht den Justizminister nicht den Innenminister. Es ist ihre Verantwortung die Wahrheit zu finden, sie sind die Volksvertretung, das sagt man doch so.«
Nach dem ausführlichen Eingangsstatement von Armin Kurtović ging Marius Weiß in der Befragung den Aussagen des Zeugen nach, wonach Informationen zur Arena Bar durch die Behörden an Mitarbeiter oder den Betreiber gingen. Herr Kurtović entgegnete, dass er als seine Pflicht betrachtet auf Missstände hinzuweisen. Er habe diese Informationen bereits gegenüber dem LKA geäußert, in seiner Aussage könne man das alles nachlesen. Es könne doch nicht normal sein, dass er Strafanzeige stellt, als Zeuge angerufen wird und man ihn dann versucht zu beeinflussen. Wenn der Barbetreiber vor möglichen Razzien durch die Polizei gewarnt wurde, dann muss das aufgeklärt werden.
Zum Einsatz am Abend beim Haus des Täters befragt, schilderte der Zeuge dass er selbst gegen halb 12/12 dort vorbeifuhr und von der Polizei abgefangen und zurückgeschickt wurde. Als er allerdings später nochmal dort vorbeifuhr, standen keine Polizist*innen mehr dort: »Der hätte vom Fenster aus noch fünf Menschen erschießen können,« ergänzte der Zeuge.
Zu den Gewerbeproben befragt, antwortete der Vater des getöteten Hamza Kurtović, dass diese vor ein oder zwei Monaten von einem Bestatter abgeholt wurden, so stand es zumindest im Obduktionsbericht. Sie füllten eine halbe Salatschüssel.
Auch Armin Kurtović wurde zum Umgang der Polizei bezüglich des Vaters des Täters befragt. Seiner Erinnerung nach, wurde seine Tochter am 9. März von der Migrationsbeauftragten angerufen und für ihre Rede bei der Trauerfeier gelobt. Man sagte damals, es gäbe neue Erkenntnisse und dass der Vater des Täters wieder in Kesselstadt sei. »Sie hat uns gebeten, keine Rache zu üben, weil es die Ermittlungen erschweren würde. Falls ich ausrasten oder was planen würde, sollte meine Tochter, die Polizei anrufen.« Daraufhin kontaktierte seine Tochter den Anwalt der Familie.
Herr Müller von der CDU wollte anschließend wissen, wie Herr Kurtović zur Obduktion stand. Er hätte seine Zustimmung dazu nicht gegeben, antworte der Zeuge. Man hätte sich dafür einen Beschluss holen müssen. Sein Wunsch war es, seinen Sohn noch einmal zu sehen, in einem Stück und nicht mit abgezogener Haut.
Erneut zum Notausgang befragt, entgegnete der Vater von Hamza Kurtović dass er genau wisse, wie schnell und intelligent sein Sohn war und er den anderen Überlebenden glaubt wenn sie sagen, sie seien nicht zum Notausgang gerannt weil sie wussten das er verschlossen war. Auch der Überlebende Piter Minnemann hatte das am nächsten Tag so ausgesagt.
Von der SPD-Obfrau Hofmann wurde zudem gefragt, ob in der Halle, in der sie warten mussten, eine seelsorgerische Betreuung erforderlich gewesen wäre. Herr Kurtović hätte sich vor allem gewünscht, dass man ihm die Wahrheit sagt: »Wieso wurde ich da die ganze Nacht festgehalten bei Kaffee und Keksen und wieso wurde mir Hoffnung gemacht?« Um halb 6 meinte man zu ihm ein Streifenwagen sei auf dem Weg ins Krankenhaus, um einen Verletzten zu identifizieren. Zu der Zeit lag sein Sohn bereits in der Gerichtsmedizin.
Er selbst hatte die Polizisten darauf angesprochen, dass seine Frau zusammengebrochen sei. Als
»Fließbandabfertigung« bezeichnete Armin Kurtović den Umgang der Polizei mit ihnen in der Halle. Der Polizist, der die Todesnachricht überbracht hat, war mal da und dann auch wieder weg. Er hat an den Tatorten Interviews gegeben, in denen er über die Anzahl der Toten sprach und sagte alles sei unter Kontrolle gewesen. Herr Kurtović kritisierte, dass es moralisch wichtiger gewesen wäre zuerst ihm zu erzählen, dass sein Kind tot war. Die Öffentlichkeit wurde vor ihm informiert. Für die Zukunft wünscht sich der Zeuge besser vorbereitete Polizist*innen, vor allem was den Umgang mit Angehörigen betrifft. Die Namen der Ermordeten wurden einfach wie eine Lektüre runtergelesen.
Zur Rolle der Migrationsbeauftragten gefragt, machte auch dieser Zeuge darauf aufmerksam sich durch die vielen Fragen wie ein Verdächtiger gefühlt zu haben, als hätte sein Sohn jemanden erschossen an dem Abend. Warum ausgerechnet die Migrationsbeauftragte dafür zuständig war, ist für ihn bis heute nicht nachvollziehbar: »Meine Eltern sind 1968 nach Deutschland gekommen, ich bin hier geboren, zur Schule gegangen. Ich frage direkt: Wie lange bleibe ich Kanake in diesem Land?«
Der SPD-Abgeordnete Turgut Yüksel wollte wissen, wie er davon erfahren habe, dass der Vater des Täters zurück sei, welche Erwartungen Armin Kurtović hatte. Er hätte sich erwartet, nicht aus den Medien sondern von der Polizei darüber informiert zu werden. Zudem hoffe er, dass sowohl der Ministerpräsident, als auch der Innenminister ihre Versprechen erfüllen, dass sie für Aufklärung sorgen damit die Menschen endlich ohne Angst leben können. So wie man es ihm bei der zentralen Trauerfeier versprach. Er habe keine Angst und sich, aber um seine Kinder.
Erneut zur Situation in der Turnhalle befragt, führte der Zeuge aus, dass man ihnen drei Telefonnummern in die Hand gedrückt habe, meinten dass der GBA und das BKA den Fall nun übernommen hätten und Hessen nicht mehr zuständig sein. Das hat sich für ihn in dem Moment so angefühlt, als hätte jemand die Leiche seines Sohnes genommen und in einen Kofferraum gepackt und ging dann einfach weg.
Von den Grünen folgten anschließend Nachfragen zu den Gesprächsangeboten vom BKA und GBA. Nach diesen Gesprächen wurde dem Zeugen klar, dass diese Stellen nicht viel helfen konnten, es sei Ländersachen. Er betonte, er sei weder Jurist noch Anwalt, einfach nur ein Familienvater der erwartet dass sie Zuständigen ihren Job machen. Auch der Umstand, dass der Zeuge von einem Beamten auf Bosnisch angesprochen wurde, war Thema in der umfangreichen Befragung. Herrn Kurtović war es wichtig, klar zu stellen, dass der Ausländerbeirat nichts falsch gemacht hat, aber er sich bis heute fragt warum für ihn und seine Familie eine Migrationsbeauftragte der Polizei zuständig war: »Wieso schickt man mir eine Migrationsbeauftragte, die mir erklärt, dass in Deutschland Blutrache verboten ist?« und fuhr später fort: »Ist mein deutscher Ausweis nichts wert? Nur zum Reisen gut? Wieso schiebt man mich in eine Ecke, in die ich nicht hingehöre? Wegen meines Aussehens oder meines Nachnamens? Darum geht es mir«. Weiter machte er darauf aufmerksam, dass von den 16 Zeug*innen in der Strafanzeige zum versperrten Notausgang mehr als die Hälfte nicht befragt wurde. Für den Zeugen ist klar, dass man dem anscheinend nicht nachgehen will.
Bis heute hat sich niemand bei ihm dafür entschuldigt oder ihm erklärt, warum sein Sohn obduziert wurde, warum man ihm nicht ermöglichte ihn selbst zu waschen, so wie es üblich ist. Sie haben seinen Sohn von oben bis unten aufgeschnitten. Zum Schluss seiner Aussage wollte Armin Kurtović noch auf eine Sache hinweisen, die ihm auf dem Herzen liege: Bei der Preisverleihung für Vili habe Herr Hashemi die rechte Gesinnung beim Frankfurter SEK angesprochen. Ministerpräsident Bouffier habe dazu gesagt, dass eine rechtsextreme Gesinnung nichts darüber aussage, ob diese Männer ihre Aufgabe bei der Polizei richtig gemacht hätten. Dazu gebe es auch einen Zeitungsartikel, so Armin Kurtović am Ende seiner Befragung.
»Ich hab da nie wieder irgendwas zu gehört, vielleicht dachten sie, wir hätten aus Spaß angerufen?« - Anhörung von Aziz Kurtović
Um 16.50 Uhr begann die dritte Zeugenaussage dieses Sitzungstages mit Aziz Kurtović, der Sohn des zuvor befragten Armin Kurtović und Bruder des getöteten Hamza Kurtović. Er wurde wegen eines Vorfalls 2017 oder 2018 in Hanau Kesselstadt geladen, bei dem ein bewaffneter Mann am JUZ im Gebüsch saß und Jugendliche mit einer Waffe bedrohte (Hintergründe hierzu hier auf Seite 4). Aziz verzichtete auf die Möglichkeit eines Eingangsstatements und bat die Abgeordneten, ihm direkt Fragen zu stellen.
An den Tag des Vorfalls erinnerte sich Aziz Kurtović noch gut, er war mit Freunden unterwegs als ihnen plötzlich ein weiterer Freund entgegen kam. Er berichtete, dass er 10 bis 15 Meter entfernt einen Mann in militärischer Kleidung mit Waffe im Gebüsch gesehen habe, der die Gruppe anvisiert habe. Es war eher warm an dem Tag, Aziz berichtete, kurze Kleidung getragen zu haben. Die Gruppe ist daraufhin weggelaufen, diskutierte anschließend, wer die Polizei verständigen soll. Schließlich rief ein Freund mit seinem Handy dort an, nannte dabei einen falschen Namen. Später rief die Polizei ihn, Aziz, zurück, um ihn um eine Aussage zu bitten. Dieser Vorfall wurde im Freundeskreis besprochen, man ging aber nicht an die Öffentlichkeit. Ein paar Monate später erfolgte die Befragung durch die Polizei. Auf die Bitte etwas ausführlicher zu schildern was passiert ist, ergänzte Aziz, dass ein Freund von ihm, der selbst bei der Bundeswehr war, meinte dass er jemanden im Gebüsch sitzen sah. Was er in der Hand hielt, konnte er selbst damals nicht erkennen, da er den Mann nur vom Weiten gesehen hat.
Aziz Kurtović fühlte sich damals durch den Mann im Gebüsch bedroht, eine Beschreibung kann er aber nicht mehr geben, aber ein Freund von ihm könne dazu vielleicht etwas sagen, auf den er im Ausschuss verwies. Er war damals sehr überrascht, solche Situationen kenne er nur aus dem Fernsehen oder von Spielen auf der Playstation. Von der Polizei hat der Zeuge nie wieder etwas gehört nachdem er befragt wurde: »Ich hab da nie wieder irgendwas zu gehört, vielleicht dachten sie, wir hätten aus Spaß angerufen?«. Auch seine Freunde, mit denen er damals unterwegs war, hätten danach nie wieder etwas von der Polizei gehört. Erst nach dem 19. Februar habe die Polizei angerufen.
Von den Grünen erfolgten weitere Nachfragen zum Vorfall mit dem Mann im Gebüsch, der dem Jugendlichen aufgelauert hat. Aziz Kurtović hat damals jedoch nur Umrisse erkennen können, es war schon dunkel. Schussgeräusche gab es nicht. Die Polizei wollte damals zuerst wissen wer angerufen hat. Als die Polizei kam war der Täter bereits verschwunden. Die Gruppe zeigte der Polizei dann in welche Richtung der Mann gelaufen war, diese schaute aber nicht 100% in die genannte Richtung. Auf die Frage, warum die Gruppe Scheu vor der Polizei hatte, antworte Aziz Kurtović dass es vorher Vorfälle gab wo sie unterwegs waren, kontrolliert wurden und zum Beispiel sogar ihre Schuhe und Socken ausziehen mussten, obwohl er keinen Eintrag bei der Polizei hatte. Sie hatten Hemmungen die Polizei anzurufen. Das hat sich auch bestätigt, meinte er weiter. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie sich mit einem falschen Namen beim Polizeinotruf meldeten und die Polizei meinte sie müssten den Einsatz bezahlen. Auf Nachfrage was der Zeuge meinte, als er schilderte »die Polizei sei zahlreich erschienen«, konkretisierte er seine vorherige Aussage. Als die Polizei wegen des Vorfalls zum JUZ kam, waren es 8-10 Beamte in 2-3 Polizeiautos, auch ein Kriminalbeamter war dabei. Später konnte er der Akte entnehmen, dass in Hanau-Lamboy ähnliches passiert ist. Auf die Bemerkung des SPD-Abgeordneten Yüksel, dass laut den Aussagen der anderen Jugendlichen es der spätere Täter gewesen sein könnte, sagte Aziz Kurtović: »Ich hoffe er war es, ansonsten bedeutet es, da draußen ist noch so einer«.
Nach weiteren Details befragt, berichtete der Zeuge davon, dass die Jugendlichen an dem Tag am Grillen waren, ein paar sind losgezogen um Getränke zu kaufen. Das Gelände liegt nicht sehr abgelegen, von der Helmholzstraße sei es einsehbar. Das besagte Jugendzentrum liegt genau zwischen dem Täterhaus und dem zweiten Tatort, etwa 100 Meter vom Täterhaus entfernt. Erst nach dem 19.2.2020 wurden er und seine Freunde wieder zu dem Vorfall befragt. Aziz Kurtović beendete seine Aussage mit einem Appell: »Klärt das bitte auf für meinen Bruder und alle anderen, die da ihr Leben gelassen haben.«
Mit dieser eindringlichen Forderung von Aziz Kurtović endete die dritte öffentliche Sitzung.