4. Sitzung
»Was tun Sie ganz konkret, damit das rassistische Morden ein Ende hat?«
Am 21. Januar 2022 fand die vierte öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag zu dem rassistischen Mordanschlag in Hanau am 19. Februar 2020 statt. In der vierten Sitzung sprachen Serpil Unvar, Mutter des ermordeten Ferhat Unvar und Çetin Gültekin, Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin.
»Wir Opfer wurden zu Tätern gemacht« – Anhörung von Said Etris Hashemi
Ab 8.30 Uhr fand vor dem Eingang zum hessischen Landtag wieder eine Kundgebung der Initiative 19. Februar Hanau statt. Dort wurde an die Verstorbenen erinnert und Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen gefordert. Die Kundgebung lief den gesamten Tag über parallel zum Untersuchungsausschuss.
Marius Weiß (SPD) eröffnete die Sitzung im Plenarsaal des hessischen Landtags und rief Çetin Gültekin, den Bruder des am 19. Februar ermordeten Gökhan Gültekin, als zehnten Zeugen des Ausschusses auf. Herr Gültekin nahm mit seinem Zeug*innenbeistand Platz und der Ausschussvorsitzende belehrte ihn als Zeugen. Auf seine Frage, ob er direkt Fragen gestellt bekommen möchte oder vorher von sich aus etwas sagen möchte erklärte er, dass er zuerst ein Eingangsstatement verlesen möchte.
Wir geben im Folgenden die Eingangsstatements der Angehörigen möglichst ausführlich, basierend auf unserer Mitschrift wieder, müssen aber darauf hinweisen, dass es kein exaktes Wortprotokoll ist und es vereinzelt Abweichungen geben kann.
»Wir Angehörige wurden wie rechtlose Objekte der staatlichen Ermittlungen behandelt. Das war für mich wie ein zweiter Anschlag.« – Anhörung von Çetin Gültekin
Mein Name ist Çetin Gültekin. Ich bin der ältere Bruder von Gökhan Gültekin. Ich bin 1974 in Hanau geboren. Mein Bruder Gökhan wurde 8 Jahre später ebenfalls in Hanau geboren. Auch mein Sohn wurde später in Hanau geboren. Unsere Familie lebt seit 1968 in Hanau. Seit 1994 wohnten wir in Hanau Kesselstadt.
Wir waren hier in Hanau in der Schule, wir hatten hier unsere Arbeit. Unsere Familie hatte niemals Sozialhilfe oder sonstige staatliche Sozialleistungen erhalten. Ich hatte meine eigene Familie und Wohnung. Deshalb hatte Gökhan maßgeblich die ganze Familie versorgt. Unseren Vater und Mutter, meinen Sohn aus erster Ehe. Gökhan hatte ein gutes Einkommen als Selbständiger, er hat viel gearbeitet und genug verdient, um die gesamte Familie zu unterhalten. Mit dem Mord wurde die Existenzgrundlage unserer Familie zerstört.
Und vor allem wurden unsere Herzen gebrochen. Mein Vater, der an Krebs erkrankt war, starb kurze Zeit nach der Ermordung von Gökhan, nur 38 Tage später. Ich wollte und musste nun die Verantwortung für meine Mutter übernehmen. In der Folge und an den täglichen Überforderungen wurde schließlich meine Ehe zerrüttet.
Was ich sagen will: Der Rassist hat nicht nur meinen Bruder ermordet. Der Terroranschlag hat unsere gesamte Familie zu Grunde gerichtet.
Zunächst erste Phase am Tatort. Mit Taxi in der Burgallee angekommen. Vater und Mutter saßen auf der Strasse, weinend, verzweifelt vor einem rot-weißen Absperrband. Sie saßen wirklich auf der Strasse. Im Februar, in der Kälte, mit Hausschuhen. Sie hatten von Bekannten aus dem Kiosk gehört, dass Gökhan zu den Opfern gehört. Aber vielleicht – so unsere Hoffnung, wäre er nur schwer verletzt. Denn es gab Transporte ins Krankenhaus. Die Eltern wollten unbedingt ihren Sohn sehen, ich wollte meinen Bruder sehen, um glauben zu können, dass er wirklich tot ist. Es gab aber keine Ansprechperson für Opferangehörige am Tatort am Kurt-Schumacher-Platz. Die Polizei vor Ort am Tatort war nur auf Abwehr eingestellt: genervt, ängstlich oder sogar aggressiv. Mein Eindruck war, dass die Beamten uns als potentielle Täter angesehen haben.
Die Atmosphäre am Tatort ist kaum zu beschreiben, soviel Geschrei und Verzweiflung. Unsere Mutter musste von uns zurückgehalten werden, weil sie unbedingt zu ihrem Sohn wollte. Es waren gar Handgreiflichkeiten zu befürchten. Doch die Polizei hat nur sich selbst »geschützt« statt auf uns zuzugehen. Es gab dort keinerlei Betreuung, keine Kontaktperson, keine Auskunft geschweige denn tröstende, beruhigende Worte.
Die Frage, die ich mir nachträglich zu dieser Situation gestellt habe: Was haben die Polizisten eigentlich für eine Ausbildung? Keine Schulung zum Umgang mit Angehörigen von Opfern? Sie erschienen mir völlig unerfahren im Umgang mit traumatisierten, verzweifelten Menschen.
Mein Sohn und ich haben die zwei Krankenhäuser in Hanau abgefahren, in Offenbach und Frankfurt haben wir in den Krankenhäusern angerufen. Nirgends war ein Gökhan Gültekin aufgenommen worden.
Zweite Phase in der Halle im Lamboy Sie haben es sicher schon von anderen Familienangehörigen gehört: Wir Angehörige wurden dann aufgefordert, in einen Bus einzusteigen und sind mit diesem in eine Halle in Hanau Lamboy gefahren worden. Dies erschien schon in der Nacht sehr improvisiert und nachträglich habe ich die Einschätzung, dass es dabei nur um eines ging: uns, die Angehörigen der Opfer, vom Tatort am Kurt-Schumacher-Platz wegzuschaffen. Schnell einen Bus, schnell eine Halle am anderen Ende der Stadt und alle Betroffenen mit dem Versprechen dorthin locken, dass es dort die direkten Informationen gebe. Doch das war – geplant oder ungeplant sei dahingestellt – eine Täuschung. Wir haben in der Halle über sechs Stunden gewartet. Sechs Stunden, die uns wie sechs Tage vorkamen. Alle 30 Minuten kam ein Polizist, um uns zu sagen, dass er noch keine weiteren Informationen habe und uns keine Antworten geben könne im Hinblick auf unsere Geschwister oder unsere Kinder.
Also auch hier in der Halle: Keine wirkliche Betreuung, keine Informationen, die uns irgendetwas erklärt oder vermittelt hätten. Dann zwischen 6.00 und 6.30 Uhr: Der Polizist liest die Liste der Ermordeten vor. Und wir bekommen eine Telefonnummer, wo wir uns ab 9.00 Uhr melden sollen, um mehr zu erfahren.
Die Tage nach der Tat
Ab 9 Uhr haben wir mehrfach unter der angegebenen Nummer angerufen und auch jemanden erreicht. Aber immer dieselbe Antwort: wir haben keine weiteren Informationen. Nichts zum Aufenthaltsort des Leichnams. Keine Informationen zu dem, was eigentlich passiert war.
Und das blieb so. Nicht nur am Donnerstag, dem 20. Februar. Auch am Freitag. Auch am Samstag. Auch am Sonntag. Und auch am Montag. Erst am Montag Abend haben wir vom Bestattungsinstitut Bescheid bekommen, dass die Leiche jetzt freigegeben sei und zum Hanauer Friedhof gebracht würde. Dass sie nun gewaschen werden könne.
Alles ging nun ganz schnell. Am nächsten Tag gab es das Gebet auf dem Marktplatz – mit den Särgen von Sedat, Fatih und Gökhan. Und danach gleich der Abflug vom Flughafen in die Türkei. Am Dienstag, dem 25. Februar 2020. Sechs Tage nach den rassistischen Morden.
In den Tagen nach der Tat, also ab Donnerstag Vormittag, war meine Familie und ich fast durchgehend im Agri-Verein. Jeden Tag von etwa 8.00 bis 23.00 Uhr. Wir haben dort mit unseren Verwandten und Bekannten getrauert. Der Bundesopferbeauftragte Edgar Franke kam dorthin am Samstag. Um uns zu kondolieren und auch über die Ersthilfen zu informieren.
Ein Polizist (Herr Adelmann aus Hanau) kam und hat uns eine weitere Telefonnummer gegeben. Aber auf alle unsere Fragen hatte er auch keine Informationen. Ansonsten gab es 5 tagelang niemanden. Kein Polizist, kein Ermittler, kein Staatsanwalt, niemand, der uns auch nur eine Information zum Leichnam, zum Tatablauf oder zum Täter gegeben hätte. Niemand, der uns auch nur eine erklärende oder vermittelnde Information gegeben hätte.
Ich frage mich: Warum wurden wir, warum wurden die Familien der Opfer im Ungewissen gelassen? Was für eine Logik steckt hinter diesem Vorgehen? War es eine Art Einschüchterungsstrategie? Alle Familien schreien nach Informationen. Es ist für die Polizei und Behörden mehr Arbeit, uns ständig abzuwimmeln als uns endlich zu informieren. Es erscheint schwerer, uns alles zu verschweigen als etwas zu erklären. Doch das passiert nicht. Niemand übernimmt Verantwortung. Damals nicht, und bis heute nicht.
Eine polizeiliche Grosslage – so wird, wenn ich es richtig verstanden habe, genannt, was in Hanau passiert ist. Und meine Frage: Was war oder ist das für ein Konzept? Gab es überhaupt ein Konzept?
Zu allen möglichen Unglücken gibt es doch Szenarien und Katastrophenpläne. Zu Feuer oder Erdbeben oder Flugzeugabsturz. Evakuierungspläne oder Probealarm. Was gab es hier in Hanau am 19. und 20. Februar 2020?
Niculescu Paun hat es mir erzählt und Ihnen hier im Saal am 17. Dezember vorgetragen. Was im Bericht der Staatsanwaltschaft zum Notruf stand. Dass bei der hessischen Polizei 2016 ein Szenario zu einem Terrorangriff erstellt wurde. Ausgehend von einem mobilen Täter. Und daraus folgernd, dass es besonders wichtig sei, in dieser Situation viele Notrufabfrageplätze zur Verfügung zu haben. Damit der Täter verfolgt, damit schnell reagiert werden kann. Hier gab es also zumindest ein Szenario. Doch wir wissen jetzt: Zumindest dieses Szenario hat die Hanauer und Hessische Polizei offensichtlich gar nicht interessiert. Es wurde nichts unternommen und nichts umgesetzt. Stattdessen blieb der Notruf technisch total veraltet und personell völlig unterbesetzt.
Die Frage, ob es ansonsten in Hanau und in Hessen ein Konzept zu solch einer sogenannten Großlage gab? Vielleicht gab es weitere Szenarien? Und sie wurden ebenfalls nicht beachtet?
Oder gab es gar kein Konzept? Nicht für den Umgang mit Angehörigen nach einem rassistischen Terroranschlag? Und nicht für den Umgang mit Angehörigen in den Tagen danach?
Zur Obduktion
Zunächst: Es gab keine Information, dass obduziert würde. Auch keine Information oder die Frage, dass und ob wir zustimmen müssen. Lt. Akte hat die Staatsanwaltschaft Hanau die Obduktion veranlasst. Ich frage mich, wann das war? Und warum die Staatsanwaltschaft Hanau? Da doch bereits in der Nacht der Generalbundesanwalt übernommen hat. Der Staatsanwalt Mies aus Hanau bestätigt noch vor wenigen Monaten im Spiegel, dass ab vier Uhr nachts der GBA übernommen hatte und sie – die Hanauer Staatsanwaltschaft – »raus war«. Warum, wann und wie hat dann dennoch die Staatsanwaltschaft Hanau den Auftrag gegeben? Warum haben sie nicht vorher mit uns geredet? Und nachher natürlich auch nicht.
Die Leiche meines Bruders hat – wie wir erst später verstanden haben – etwa 20 Stunden am Tatort gelegen. Also bis am Abend des Donnerstag, des 20. Februar. Dann wurde der Leichnam zum Institut für Rechtsmedizin transportiert und dort laut Akte am Samstag, dem 22. Februar 2020, zwischen 10.15 Uhr und 13.40 Uhr obduziert.
Es gab also – wenn nicht schon Donnerstag – doch mindestens den gesamten Freitag über Zeit, dass wir uns von Gökhan hätten verabschieden können. Warum hat niemand mit uns geredet, warum hat uns das niemand angeboten? Es gibt den Begriff des Totenfürsorgerechts. Als Definition habe ich gefunden: »Das Recht der Totenfürsorge umfasst das Entscheidungsrecht über den Leichnam des Verstorbenen«. Aber dieses Recht wurde uns zu jeder Zeit und auf allen Ebenen versagt.
In der Tatnacht, bei der Obduktion sowie in den Tagen danach:
Wir Angehörige wurden wie rechtlose Objekte der staatlichen Ermittlungen behandelt. Das war für mich wie ein »zweiter Anschlag«.
Im Beschlagnahmebeschluss des Bundesgerichtshofes zur Leiche meines Bruders konnte ich später in der Akte lesen, ich zitiere: »Angehörige des Getöteten wurden als Totensorgeberechtigte am 19. Februar 2020 angehört. Eine abschließende Zustimmung zur Öffnung der Leiche liegt bislang nicht vor. Daher ist die Beschlagnahme erforderlich.«
Das ist definitiv gelogen. Wir wurden niemals angehört. Und schon gar nicht am 19. Februar. Am späten Abend des 19. Februar 2020 erfuhren wir zunächst nur über Bekannte, dass Gökhan unter den Opfern sein soll. Erst am 20. Februar morgens um ca. 6.30 Uhr wurden wir von der Polizei über den Tod informiert. Und jede weitere Information zum Ort des Leichnams wurde uns verweigert. Wie schon berichtet über mehrere Tage weg.
Warum wurde erst so schnell und hastig – und ohne uns zu informieren oder gar zu fragen – der Auftrag zur Obduktion gegeben? Und wenn es dann zumindest bei Gökhan noch zwei Tage dauerte, bis die Obduktion wirklich durchgeführt wurde, warum durften wir Gökhan nicht sehen – VOR der Obduktion.
Denn bei der Obduktion – das habe ich jetzt lernen müssen – wurde der gesamte Körper von Gökhan aufgeschnitten. Als wir ihn am 25. Februar endlich waschen konnten, war er an allen möglichen Stellen zugenäht.
Aus dem Obduktionsbericht können Sie die Details lesen. Insbesondere zur sogenannten
»Inneren Besichtigung«. Dass die Ärzte wirklich alles aufgeschnitten haben. Sie haben den Kopf geöffnet und dort ein Projektil entfernt. Sie haben aber auch das Gehirn gewogen: 1580 Gramm. Sie haben den Bauch aufgeschnitten und auch hier eine Kugel gefunden. Sie haben dann das Herz gewogen: 432 Gramm. Die Leber mit 2044 Gramm. Die Milz mit 258 Gramm. Die linke Niere 186 Gramm, die rechte Niere 176 Gramm. Abgewogen. Können Sie sich das vorstellen?
Mein Bruder wurde von zwei tödlichen Schüssen getroffen. Einen im Kopf und einen in die Nähe des Herzens. Es erscheint logisch, dass die Projektile gefunden werden müssen und damit verbunden die Todesursache. Aber ist es notwendig, dass der gesamte Körper auseinandergenommen wird?
Hat eine Leiche keine Ehre mehr? Gibt es eine »Postmortale Würde«? Also: besteht die Würde eines Menschen über den Tod hinaus? Wenn ja, ist das, was mit meinem Bruder und auch den anderen Ermordeten gemacht wurde, damit vereinbar?
Und wenn das wirklich gemacht werden muss, warum wurde uns das nicht von Jemandem erklärt. Warum werden wir ohne entsprechende Vorbereitung, ohne Information mit einem völlig zerschnittenen und notdürftig zusammengenähten Leichnam konfrontiert?
Ein zweiter Punkt bezüglich der Obduktion:
Nach der Obduktion wurden sogenannte Gewebeproben zurückbehalten. »Gewebeproben« klingt harmlos und winzig klein. Es war aber ein mittelgroßes Paket. Der Inhalt: Sieben kleine Behälter, mehrere Gläser und Ampullen sowie ein größerer faustdicker Brocken. Ja, in der Akte gibt es diesen Satz dazu: »Die Proben werden 1.5 Jahre asserviert«. Ganz am Ende eines verstörenden 19-seitigen Obduktionsberichtes, sozusagen als Kleingedrucktes. Wer von uns Angehörigen sollte sich das merken?
Einmal mehr gab es keine Erklärung oder Vermittlung, warum diese »Proben« zu- rückgehalten wurden und was das bedeutet und wie damit umzugehen wäre, wenn sie freigegeben werden. 18 Monate nach den Morden mussten wir schnell reagieren und erlebten nur eine weitere psychologische Belastung.
Rückkehr des Vaters des Täters – Gefährderansprache
Der Polizist Adelmann hat mich dazu angerufen. Er versuchte freundlich zu sein. Es wäre eine routinemäßig Ansage, die er machen müsse. Auch wenn er bei mir und meiner Familie keine Gefahr sehe… Doch der Vater des Täters wäre zurück und es dürfte keine Racheaktionen geben…
Wir erfahren erst im Dezember 2020 aus dem Spiegel: Von April bis Dezember hatte der Vater zahlreiche rassistische Strafanzeigen gestellt. Er wollte die Webseite und die Waffen zu-
rück. Aber niemand hat uns informiert und gefragt, wie es uns damit geht oder ob wir Schutz benötigen.
Während der Vater des Täters innerhalb weniger Stunden vom Beschuldigten zum Zeugen gemacht wurde und danach regelrecht mit Samthandschuhen angefasst wurde, waren Opferangehörige aggressiv bedroht worden. Besonderes Beispiel: Filip Goman mit seiner Familie, der sich entschieden hatte, nicht in die Halle zu fahren, sondern vor Ort auf den Abtransport seiner Tochter zu warten. Er wurde bekanntlich in der Nacht von Sondereinheiten der Polizei mit vorgehaltenen Waffen bedroht.
Wohnung und Existenz
Ich habe eingangs erwähnt, dass meine Familie seit 1994 in Kesselstadt gewohnt hat. Also über 26 Jahre. Dem Mord an Gökhan fand in direkter Nähe unserer Wohnung statt und nach dem Tod meines Vaters konnte meine Mutter dort gar nicht mehr leben. Und ich auch nicht. Jeden Tag am Tatort vorbeigehen, und jeden Tag damit rechnen, dem Vater des Mörders beim Einkaufen zu begegnen.
Deshalb hatten wir noch im Frühjahr 2020 entschieden, aus Kesselstadt wegzuziehen. Doch wie sollten wir eine Wohnung finden, die wir auch bezahlen können? Denn unsere Miete in Kesselstadt war günstig, jede neue Wohnung in oder nahe der Innenstadt von Hanau würde das Doppelte kosten.
Wir lebten zunächst nur von Krankengeld, also mit wesentlich weniger Einkommen als wir zu unserer Zeit mit Gökhan zur Verfügung hatten. Wir hatten zwar die Ersthilfen für Terroropfer erhalten. Davon ging aber sehr viel in die Trauerfeierlichkeiten, die Überführung von Gökhans Leichnam in die Türkei. Und jetzt kam das Problem mit der Wohnung. Wir konnten über Monate nichts Angemessenes und für uns Bezahlbares finden. Und wir mussten deshalb schon sehr viel länger bleiben als wir wollten und eigentlich konnten. Meiner Mutter ging es in der alten Wohnung immer schlechter. Was tun? Von staatlicher Seite gibt es für solch eine Situation Nichts. Es gibt keine Stelle bei den Behörden, die helfen würde bei Folgeschäden von rassistischen Terroranschlägen. Die Stadt und der lokale Opferbeauftragte hatten uns zwar einzelne Wohnungen angeboten, die aber nicht barrierefrei für meine Mutter waren und auch nicht angemessen. In einer völlig beengten oder gänzlich getrennten Wohnung wären wir nicht zur Ruhe gekommen. Mit der Initiative 19. Februar haben wir über Social Media sogar einen öffentlichen Aufruf für eine Wohnung gestartet. Schließlich haben wir im Oktober 2020 endlich eine Wohnung gefunden, die wir aber nicht alleine hätten finanzieren können. Alle unsere Versuche, vom Land oder Bund eine Unterstützung zu bekommen, scheiterten, weil es für so etwas keine Regelung gibt. Schließlich konnten wir die Stadt Hanau überzeugen, zumindest für ein Jahr die Miet-Differenz zwischen der alten Wohnung in Kesselstadt und der neuen Wohnung zu decken. Das war natürlich keine Selbstverständlichkeit und ich danke dafür dem Oberbürgermeister Kaminsky. Aber warum muss ich überhaupt in eine solche Situation kommen? Zum Bittsteller zu werden für eine andere Wohnung, damit meine Mutter überleben kann. Weil ein Rassist uns alles genommen hat. Wie kann es sein, dass es keinerlei staatliche Strukturen gibt, die in solch einer Situation unbürokratisch unterstützen?
Zum Schluss:
Gab es bei der Polizei ein Konzept, wie mit Angehörigen von Opfern umzugehen wäre? Folgte das Vorgehen in der Halle und der Umgang dort mit dem kalten Verlesen der Liste der Toten einem Notfallplan? Wenn ja, wenn das ein Plan oder Konzept war, dann ist dies jedenfalls gründlich schief gegangen. Statt Leid zu lindern und zu beruhigen und wie versprochen zu informieren, wurden Spannungen und Stress gesteigert. Oder gab es gar kein Konzept und alles wurde ganz hastig improvisiert?
Ich nehme an Letzteres. Und wenn es so ist, warum kann es nicht zugegeben werden? Ist es so schwer, sich dafür zu entschuldigen, dass alle überfordert waren und alles mögliche nicht funktioniert hat? Für die Tatnacht ließe sich dann einiges besser nachvollziehen.
Unverzeihlich bleiben allerdings die Tage danach. Wie ist es möglich, dass sich niemand in der Verpflichtung und Verantwortung gesehen hat, uns, die Angehörigen der Opfer, umfassend zu informieren? Und zu erklären, wo die Leichen hingebracht wurden, was nun weiter passieren wird. Dass unsere Familie – und das war ja so ähnlich oder noch schlimmer bei den anderen Opferfamilien – über 5 Tage im Ungewissen gehalten wurde. Das bleibt für mich unbegreiflich.
Nach dem Eingangsstatement begann die Fragerunde. Die meisten Fraktionen beteuerten zu Beginn der ersten Fragerunde ihr Beileid.
Der Ausschussvorsitzende Markus Weiß begann mit der Fragerunde, danach folgten die anderen Obleute reihum. Zunächst behandelten die meisten Fragen den Umgang der Beamten mit Angehörigen in der Tatnacht. Die Frage nach dem Zeitpunkt, an dem Herr Gültekin und seine Familie, die Nachricht vom Tod Gökhan Gültekins erfahren haben und wer ihm diese überbracht hat. Herr Gültekin hielt fest, dass er nicht am Tatort vom Tod seines Bruders erfuhr. Ebenso wurde er nach der Situation in der Halle in Hanau/Lamboy befragt, in die alle Angehörigen gebracht wurden. Diese war zum Zeitpunkt seines Ankommens noch vollkommen leer. Die Seelsorger die vor Ort waren hatten ihn oder seine Familie nicht angesprochen. Ebenso wurde Herr Gültekin gefragt, wie er von den zurückgehaltenen Gewebeproben seines Bruders erfuhr und wie die Familie in dieser Frage verfahren ist. Er habe dies von seiner Anwältin erfahren
Die Fragen der CDU-Fraktion, hier vor allem Abgeordneter Müller, erkundigen sich nach Herrn Gültekins Wissen über die Notwendigkeit der Obduktion seines Bruders und ob er dies erklärt bekam und außerdem, ob er wisse, wer diese anordnete. Er behauptete zunächst der zuständige Ermittlungsrichter am BGH habe die Obduktion angeordnet. Dazu gebe es einen Vermerk in der Akte. Herr Gültekin entgegnete in der Akte gelesen zu haben, die Staatsanwältin Türmer habe die Obduktion beauftragt. Herr Gültekin entgegnete, zum Thema der Notwendigkeit der Obduktion, dass er die Notwendigkeit der Obduktion verstehe, nicht aber wieso Gökhan Gültekin erst in diesem Zustand an die Familien übergeben wurde. Gronemann (Grüne) stellte die Frage nach den zurückgehaltenen Gewebeproben später erneut. Saadet Sönmez (LINKE) lässt sich später erneut bestätigen, dass die Information über die zurückgehaltenen Proben erst Monate nach der Tat an die Angehörigen weitergegeben wurde.
Ebenfalls von der CDU wurden die Höhen der staatlichen Hilfen abgefragt. Herr Gültekin erklärte, dass seine Familie Soforthilfe vom Bundesamt für Justiz, plus 1000 Euro vom Weißen
Ring und Miethilfe für ein Jahr von der Stadt Hanau erhalten habe. Zukünftig außerdem das Geld aus dem hessischen Opferhilfefonds.
Des Weiteren wurde er über den Kontakt zu Polizeibeamten und staatlichen Repräsentanten nach der Tat befragt. Hier zu erklärt Herr Gültekin, dass drei Tage später Dr. Franke zu ihm kam und dann ein Tag später Herr Adelmann mit einer Telefonnummer […] Er kam zu seinem Verein, um ihm Kontaktdaten zu geben, aber keine Informationen.
Ein Polizist, Herr Adelmann hat bei der Rückkehr des Vaters des Täters in das Wohnhaus außerdem die Gefährderansprache bei Herrn Gültekin durchgeführt. Abgeordnete Müller verstehe nicht, warum Herr Gültekin sich durch diese kriminalisiert fühlte. Der Beamte Adelmann sei ja freundlich gewesen. Abgeordnete Gronemann (Grüne) stellte die Frage nach dem Ablauf der Gefährderansprache später erneut. So auch Saadet Sönmez (LINKE). Herr Gültekin erklärt später er hätte erwartet, dass die Behörden Ihn fragen, ob er sich vor dem Vater des Täters bedroht fühle. Auch angesichts der Vorfälle – Beschimpfungen und Provokationen Vaters – bei einer Mahnwache in Kesselstadt 2021.
Die Fraktion der SPD hier Abgeordnete Hofman ließ sich nochmal die Stimmung am Tatort beschreiben. Herr Gültekin schilderte erneut, die Beamten seien höchst angespannt und auf Abwehr gewesen. Auch Abgeordnete Gronemann (Grüne) fragte die aufgeheizte Stimmung vor dem ersten Tatort im Laufe der Fragerunde erneut ab.
Bezüglich des Umgangs in der Halle fragt Gronemann nach Herr Gültekins Vorstellungen, wie man mit Ihnen hätte umgehen sollen. Dieselbe Frage bezog sie außerdem auch auf den Umgang im Kontext der Obduktion. Herr Gültekin gab hier zu verstehen, dass die Familie auf den Zustand der Leiche seines Bruders hätte vorbereitet werden müssen. Auch Abgeordnete Gronemann (Grüne) versicherte sich später der fehlenden Sensibilität der Seelsorger in der Halle im Laufe der Fragerunde erneut.
Abgeordnete Hofmann erkundigt sich darüber hinaus über die psychologische Versorgung der Familie.
Herr Yüksel (SPD) erklärte: »Ich kannte Ihren Vater und habe geholfen beim Dolmetschen. Er hat gesagt: ‚Ich kam als Gastarbeiter in diese Stadt, hab diese Straßen aufgebaut, hätte nie gedacht, dass so etwas meinem Kind auf diesen Straßen passieren kann.‘« Er erkundigt sich danach, ob der Innenminister und der Polizeipräsident des Landes Hessen mit ihm gesprochen habe und ob interkulturelle oder interreligiöse Kompetenz vorhanden gewesen sei. Den Landesopferbeauftragten Fünfsinn habe Herr Gültekin einmal am 14.5.2020 im Landtag in Hessen gesehen. Er war nie da. Beuth war auch kein einziges Mal da. Bouffier war am nächsten Tag auf der offiziellen Trauerveranstaltung. Einmal hatte Ministerpräsident Bouffier die Familien eingeladen, da sagte er zum Schluss zum Thema der rechten SEK-Beamten: »Nur weil sie rechts orientiert sind, heißt es noch lange nicht, dass sie ihre Arbeit nicht richtig machen.« Später erkundigt sich die AfD Fraktion auch nach einer Kontaktaufnahme der Migrati- onsbeauftragten der Polizei. Diese habe es, so Herr Gültekin, ebenfalls nicht gegeben.
Abgeordnete Gronemann (Grüne) fragte im Laufe der ersten Fragerunde nach einem Treffen der Familie mit dem GBA. Herr Gültekin erklärt: »Wir haben nichts abgesagt. Ich war nicht hier, ich war in der Türkei. Meine Anwältin hat gesagt, dass sie uns eh nichts sagen können. Nachtermin kam nicht zustande. Ich wäre hingegangen.«
Taylan Burcu (Grüne) fragt, ob es mehrsprachige Seelsorger/ Menschen aus muslimischer Gemeinde in der Halle gab? Cetin erklärt es hätte keine gegeben.
Der Abgeordnete Lambrou erkundigt sich nach der Notwendigkeit des Umzugs aus Hanau Kesselstadt. Herr Gültekin erklärt, dass die Angehörigen in unmittelbarer Nähe des Täterhauses wohnen und dem Vater des Täters so über den Weg laufen könnten. Dass es nicht von staatlicher Seite die Möglichkeit eines sofortigen Umzugs eröffnet wurde, sei unverständlich.
Der Abgeordnete erkundigt sich außerdem danach, ob die Familien die Totenüberführung selbst bezahlen mussten. Herr Gültekin verneinte, dass er habe eine Versicherung dafür. Hätte diese nicht existiert hätten sie selbst bezahlen müssen.
Auf Nachfrage der AfD Fraktion von wem er sich eine Entschuldigung erwartet habe, antwortet Herr Gültekin: »Herr Beuth. Er hat uns ja, also mich direkt angelogen. Also »exzellente Arbeit« war es definitiv nicht und uns hat er gesagt, er glaubt eher dem Papier als uns. Er war nicht dort, ich war dort. Ich kann mehr zu den Geschehnissen sagen. Er hätte sich längst entschuldigen müssen.«
Abgeordneter Hahn fragte, ob Herr Gültekin wisse, dass er Anrecht auf einen Rechtsbeistand habe. Herr Gültekin erkläre, dass ihm das niemand sagte, erst nach der Trauerfeier mit Frau Merkel kam Newroz Duman von der Initiative 19. Februar auf ihn zu. Es gab dann ein Anwaltstreffen. Einen Monat nach der Tat habe er sich mit Seda Basay-Yildiz getroffen. Keiner kam, bis auf die Leute von der Initiative, sagte er. Auch Abgeordnete Saadet Sönmez (LINKE) versicherte sich dieser fehlenden Informationen von öffentlicher Seite.
Saadet Sönmez (LINKE) fragte außerdem, ob es irgendeine Unterstützung beim Umzug von öffentlicher Seite gab. Herr Gültekin verneint das.
Die Fraktion der Linken fragt zum Schluss der Fragerunde, ob es gut gewesen wäre, wenn es eine Ansprechpartnerin gegeben hätte anstatt dieser Vielzahl an Personen. Herr Gültekin erklär, dass dies sehr gut wäre, um alle Informationen über mögliche weitere unkomplizierter an die Angehörigen weiterzugeben.
Zum Schluss gibt Çetin Gültekin ein Abschlussstatement ab:
Keine Informationen. Keine klare Ansprechperson. Keine Erklärung und keine Vermittlung. Damit waren und sind wir in Hanau immer wieder konfrontiert.
Zuerst am Tatort. Dann in der Halle. Zum Leichnam, zur Obduktion und zu den Gewebeproben. Immer wieder dasselbe Muster. Und auch in den Monaten danach und in vielerlei Hinsicht bis heute. Informiert und zugegeben wird nur, was zu offensichtlich geworden ist und nicht mehr abgestritten werden kann.
Ansonsten alles abstreiten oder vertuschen und so tun, als wenn alles bestens gelaufen wäre. Hat sich jemals jemand für den unwürdigen Umgang mit Überlebenden und Angehörigen entschuldigt? Hätte jemals jemand aus den Behörden und der Polizei über die Nichterreichbarkeit des Notrufs gesprochen? Hätte irgend jemand zum verschlossenen Notausgang ermittelt? Wer würde nachforschen zu den Waffenerlaubnisse für den Täter? Oder zu den rechtsextremen SEKlern am Täterhaus? Wir selbst mussten das alles thematisieren. Wir selbst mussten ermitteln.
Wir werden von den Journalisten immer wieder gefragt, was wir vom Untersuchungsausschuss erwarten. Ob wir darin eine Chance auf Aufklärung sehen. Ich würde diese Frage gerne an Sie weitergeben. Wollen Sie nicht die Chance nutzen und zeigen, dass es höchste Zeit ist, für eine kritische Aufarbeitung dessen, was in Hanau passiert ist? Dass Sie alles versuchen, diesen Kreislauf von Nichtinformation und Vertuschung endlich zu durchbrechen?
Damit endete die Aussage des Zeugen.
»Der Fisch stinkt vom Kopf, es ist nicht nur die Gesellschaft, die sich verändern muss. Es müssen sich auch die Strukturen ändern, die diesen Mörder nicht gestoppt haben.« – Anhörung von Serpil Temiz Unvar
Nach einer Pause wurde der öffentliche Teil mit der elften Zeugin Serpil Unvar, der Mutter des am 19.Februar 2020 ermordeten Ferhat Unvar fortgesetzt. Frau Unvar nahm mit ihrem Zeug*innenbeistand Platz und der Ausschussvorsitzende belehrte sie als Zeugin. Auf die Frage, ob sie direkt Fragen gestellt bekommen möchte oder vorher von sich aus etwas sagen möchte, erklärte sie, dass sie zuerst ein Eingangsstatement verlesen möchte.
»Es ist für mich sehr schwer heute hier zu sprechen. Es war ein großes Problem für mich, mich auf diesen Tag vorzubereiten.
Sie werden das vielleicht nicht verstehen. Ich habe so viele Mal all das jetzt schon erzählt und meine Fragen über Ferhat gestellt – und jedes Mal tut es unglaublich weh. Es wird nicht weniger schwer. Und jedes Mal war es bis jetzt auch umsonst – denn jedes Mal habe ich keine Antworten bekommen.
Ich will Ihnen berichten, was ich an dem Abend und in der Nacht des 19.Februar 2020 erlebt habe.
Kurz nach 22 Uhr wollte ich schlafen gehen. Meine Tochter kam, ganz aufgeregt, und fragt: Ist Ferhat da? Ich glaube nicht. Sie sagt: »Die sagen Ferhat ist erschossen worden.« Ich habe sofort nachgesehen: Er war nicht da. Was sollte ich tun? Ich bin sofort los, bin mit dem Auto gefahren, damit es schneller geht. Zum Kurt-Schumacher-Platz. Ich habe immerzu bei ihm angerufen, Nachrichten geschrieben – keine Reaktion.
Ich hatte die Hoffnung er ist verletzt. Ich dachte schon, ihm ist etwas passiert, aber er ist verletzt und es wird wieder gut.
Mein älterer Sohn ist gekommen.
Ich wußte es gab eine Schießerei. Am Kurt-Schumacher-Platz waren immer mehr Leute. Da war auch Polizei. Ich habe gefragt und ein Foto von Ferhat gezeigt. Die Polizei, die Leute, haben gesagt, sie können nichts sagen.
Ich bin mit meiner Freundin gewesen. Ich bin immer zwischen Bushaltestelle und Absperrung hin und her gegangen. Es hieß, da kommt ein Bus, ihr bekommt dann Informationen, die Angehörigen müssen in den Bus gehen.
Mit meiner Freundin bin ich reingegangen. Meine Tochter kam dazu. Wir mussten warten. Mein kleiner Sohn war alleine zu Hause. Ich habe gedacht, es dauert vielleicht nur eine Stunde. Ich habe auch gesagt, dass mein kleiner Sohn alleine ist. Aber keinen hat das interessiert. Zum Glück ist dann eine Bekannte zu uns nach Hause gegangen.
Dann kam ein Polizist in den Bus: »Haben sie Fragen?« Cetin hat nach seinem Bruder Gökhan gefragt. – »Der ist tot.« – Ich fragte nach meinem Sohn. – »Hast du ein Foto von ihm? So einer liegt da nicht.« – Weiter hoffte ich, er ist verletzt. Wir haben die Krankenhäuser angerufen, niemand konnte was sagen. Wir dachten gut, sie schützen die Verletzten. Immer weiter hatten wir Hoffnung.
Dann fuhr der Bus los: alle sollten zusammen zur Polizeistation. »Dort bekommen Sie die Informationen.« sagten Sie. Ich dachte wir gehe dahin und sie bringen uns wieder zurück. Sie haben uns in eine Halle im Lamboy gebracht.
Wir mussten lange dort warten. Niemand hat mit uns gesprochen. Ich habe immer wieder gefragt, wann kriegen wir Informationen? Zu Ferhat Unvar. Weiter wurden wir vertröstet. Um 6.30 Uhr haben sie die Namen gesagt. Es gibt keine Überlebenden. Dann wurden alle Namen gesagt. Der letzte war der von meinem Sohn.
Dann bin ich ins Krankenhaus. Ich bin umgefallen, ich konnte nicht mehr. Meine Freundin sagte, bleib ruhig, sonst kommst du hier nicht raus. Ich wollte aber raus. Ich musste ja nach Ferhat suchen. Ich musste ihn sehen. Ein letztes Mal. Ich musste ihn suchen. Uns wurde ja nicht gesagt wo er war. Ich habe meine letzte Kraft gesammelt, aus dem Krankenhaus bin ich gegangen, um nach Ferhat zu suchen.
Niemand hat mir gesagt, dass Ferhat noch so lange im Kiosk war. Mein Sohn lag tot im Kiosk und ich wußte das nicht. Heute weiß ich, dass er noch bis zum Abend am nächsten Tag dort gelegen hat. Dass er erst weggebracht wurde, als es schon wieder dunkel war. Er lag sehr lange da im Kiosk, so nah neben unserem zu Hause. Und ich habe mich nicht von ihm verabschieden können.
Das ist schlimm für mich. Das kann ich auch im Nachhinein nicht akzeptieren. Das tut mir bis heute weh. Wer hat entschieden so vorzugehen? Warum wurde das gemacht?
Ich frage mich immer und immer wieder, wie lange Ferhat noch gelebt hat und was mit ihm in den letzten Minuten seines Lebens passiert ist, wie es ihm ging.
Für mich ist es deshalb sehr sehr wichtig, den genauen Tatablauf im Kiosk 24/7 am Tatort Kurt-Schumacher-Platz zu erfahren.
Es gibt Aufnahmen einer Überwachungskamera aus der Tatnacht im Kiosk, in der steht mein Sohn an einem anderen Platz, wie dem, an dem die Leiche gefunden wurde. Dieses Video haben sehr viele Menschen gesehen, auch meine älteren Kinder.
Die Schüsse des Mörders fielen um 22:00 Uhr. Ferhat ist nach den Schüssen zusammengebrochen. Dann hat er seinen Oberkörper aufgerichtet und versucht, sein Handy rauszuholen. Er hat vielleicht noch versuchen wollen Hilfe zu holen. Und er hat sich irgendwie von dem Platz neben der Theke, wo er von den Schüssen getroffen wurde, bis hinter die Theke bewegt – noch nachdem er getroffen wurde. Er hat versucht sich in Sicherheit zu bringen. Ein Mann, der auch im Kiosk war, sagte aus, dass Ferhat am Ende zweimal gesagt hat: Ich brenne, ich brenne. Dass er da schon hinter der Theke war.
Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie es Ferhat am Ende gegangen ist. Er war ganz alleine. Es ist zweimal ein Polizist über meinen Sohn gestiegen, um das Fenster abzuschirmen. Aber er hat sich nicht zu meinem Sohn gebeugt, um zu prüfen, ob er noch Puls hat oder Hilfe braucht. Keiner hat nach ihm gesehen. Er blieb allein. Ich kann Ihnen das Gefühl nicht beschreiben. Mein Kind ist allein geblieben. Er blieb allen, obwohl Polizisten dort waren.
Der in der Sterbeurkunde angegebene Todeszeitpunkt ist mit 3:10 Uhr am 20.02.2020 angegeben. Als ich das gelesen habe, da habe ich nichts mehr verstanden.
Mein Anwalt hat mir erklärt, dass Ferhat sehr schnell gestorben sein muss. Und dann stand da 3:10 Uhr in der Sterbeurkunde. Das war ein Schock. Ich habe gedacht: wie lange hat mein Sohn da gelegen und keiner hat ihm geholfen?
Keiner ist zu mir gekommen, um mir das alles zu erklären. Ich musste selber rausfinden, was passiert ist.
Die Staatsanwaltschaft Hanau hat im November gesagt, dass es keinen Grund gab, warum die Polizisten, die in dem Kiosk waren, zumindest nachsehen sollten das Ferhat noch lebt. Sie sagen, dass die Rechtsmediziner davon ausgehen, dass Ferhat »binnen etwa einer Minute nach der Schussabgabe, also um 22:01 seinen Verletzungen erlegen« sei. Also sagen sie, es ist kein Grund da weiter zu ermitteln, warum niemand bei meinem Sohn war. Er wäre ja sowieso gestorben.
Niemand sollte allein sein beim Sterben. Als sei er wertlos wurde Ferhat da liegen gelassen und über ihn drüber gestiegen, als sei er kein Mensch. Niemand war bei ihm, niemand hat sich ihm zugewandt. Keiner will allein sein beim Sterben. Und die Polizisten die da waren konnten nicht wissen, dass Ferhat wirklich tot war, wenn sie sich ihm nicht zugewandt haben. Es ist eine Frage der Würde.
Ich habe vieles versucht, um herauszufinden, was mit Ferhat geschah. Und wieso er so allein da liegen geblieben ist.
All das nicht genau zu wissen, war sehr schlimm für uns. Wir fragen uns ständig, wie lange Ferhat noch gelebt hat und wie es ihm in diesen letzten Momenten ging. Diese Situation war für mich und auch für meine beiden großen Kinder unerträglich.
Die Akteneinsicht hatte uns nicht geholfen, diese Fragen zu beantworten. Unsere Anwälte haben Ende April 2020 die ersten Teile der Akten bekommen. Danach wurde uns ein Gespräch angeboten.
Bei diesem Gespräch im Juni 2020 habe ich der Generalbundesanwaltschaft und dem BKA erklärt: Was ich und meine älteren Kinder brauchen ist eine vollständige Darstellung aller Tathandlungen im Kiosk. Ich, wir, müssen wissen,
Was ist kurz vor dem Tod von Ferhat geschehen? Wo im Kiosk hat er sich aufgehalten?
Wo er war, als ihn die tödlichen Schüsse getroffen haben? Wie ist er an den Ort gelangt ist, wo er aufgefunden wurde? Wer hat seinen Tod festgestellt?
Wann war ein Arzt vor Ort?
Warum wurde sich seiner erst so spät angenommen? Was ist später in der Nacht mit ihm geschehen?
Der Tatortbefundbericht weist große Lücken auf. Die noch in der Nacht einsetzenden Zeugenvernehmungen zeigen ein Bild der geschockten und traumatisierten Anwohner, Überlebenden und Verletzten. Aber das alles und auch die Ergebnisse der Spurensicherung helfen nicht den eigentlichen Ablauf des Geschehenen zu verstehen. Die in der Akte vorhandenen Berichte der Polizei sagen nicht viel. Es fehlen Berichte der Rettungskräfte und der nur wenig später eintreffenden Spezialisten. Mein Anwalt hat versucht diese Berichte zu bekommen.
Auch das Gespräch mit der Generalbundesanwaltschaft am 26.6.2020 hat uns nicht wirklich weitergebracht in diesen Fragen. Bei dem Gespräch war ich mit meinem Anwalt zusammen. Bei den meisten Sachen haben sie sich nur gewundert und gesagt sie müssen was nachschauen, sie klären das.
Wir haben auch gesagt, dass es nicht stimmt, dass ich zu der Obduktion angehört worden bin. Das steht so im Beschluss zur Beschlagnahme der Leiche. Aber ich wurde nicht angehört. Keiner hat mit mir über die Obduktion geredet. Ich wusste sehr lange nichts davon. Ich habe erst kurz vor diesem Gespräch im Juni 2020 von anderen Opfer-Angehörigen erfahren, was mit unseren ermordeten Kindern gemacht wurde. Es war ein weiterer Schock für mich.
In dem Gespräch hat uns dann Frau Hegmann von der Bundesanwaltschaft gesagt, dass sie das so vom Hessischen LKA gesagt bekommen hat und es deshalb am 21. Februar so aufgeschrieben hat. Aber es stimmt einfach nicht, wer das vom LKA so gesagt hat, der hat gelogen.
Ich habe auch selbst alles probiert, damit wir endlich Antworten bekommen. Ich habe Frau Merkel geschrieben: wenn es keine lückenlose Aufklärung gibt, dann können wir nicht trauern.
Ich habe Bundespräsident Steinmeier getroffen. Auch ihn habe ich gefragt.
Die Bundesjustizministerin Lambrecht war in Hanau, das war ein Treffen mit allen Familien im Nachbarschaftshaus Tümpelgarten. Auch da haben sie Zettel und Stift genommen und aufgeschrieben und gesagt: wir suchen nach Antworten. Es kam aber nichts zurück.
Manchmal waren diese Gespräche sehr schmerzhaft, eine Mitarbeiterin des Bundesopferbeauftragten Dr. Franke hat bei einem Termin gesagt, wenn mein Sohn bei einem Autounfall gestorben wäre, dann würden wir weniger Hilfen bekommen. Das war furchtbar für mich.
Besonders schlimm war ein Termin, den wir mit allen Familien beim hessischen Ministerpräsidenten Bouffier hatten. Er saß in dem Treffen und erzählte uns, dass die Menschen in Volkmarsen auch Schlimmes erlebt haben. Nach dem Termin wollte ich nicht mehr fragen… ich habe keine Kraft gehabt in einem Gespräch mit dem hessischen Opferbeauftragten Fünfsinn diese Fragen nochmal zu stellen.
Wissen Sie, es kostet unglaublich viel Kraft, diese Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Es kostet noch viel mehr Kraft dann auf Antworten zu warten, die nicht kommen.
Als keine Antworten kamen, haben wir diese Fragen öffentlich gestellt. Gegenüber Medien ganz oft.
Ich habe allen dieselben Fragen gestellt. Immer wieder bin ich vertröstet worden. Keiner hat mir diese Fragen beantwortet.
Wir hatten in der Zwischenzeit mehrere Gespräche mit unserem Anwalt. Wir haben versucht, Berichte von Rettungskräften zu finden, die nicht in der Akte enthalten waren.
Ca. 3-4 Wochen nach der Tat, ich kann es nicht mehr genau sagen, kam es zu einer Gefährderansprache.
Zwei Polizisten waren bei mir. Sie sagten, ich kann einige Sachen von Ferhat abholen. Dann haben sie sich angesehen, waren zögerlich. Ich dachte: Was?
Sie sagten: Der Vater des Täters ist zurück nach Hause gekommen.
Wir haben gehört, die Jugendlichen wollen etwas machen. Ich sagte, ich habe sowas nicht gehört. Was soll man gegen einem 70-/80jährigen Mann machen? Sicher gibt es weitere Täter, so wie den, der sich erschossen hat, aber nicht der alte Mann.
Die Polizei meinte, Jugendliche wollen gegen den Vater vorgehen. Ich habe sowas nicht gehört, sind sie sicher? Ja. Wer sagt sowas? Sie haben einen Namen gesagt, so einen Namen gibt es bei den Jugendlichen hier im Viertel nicht. Ich habe extra nachgefragt. Die Jugendlichen sind sehr nervös. Die Polizei hat das Wohnhaus des Täters bewacht.
Auch das habe ich in schon im Juni 2020 in dem Gespräch mit der Bundesanwaltschaft und dem BKA erzählt. Es hat sich aber nichts geändert.
Wir haben dann im Dezember 2020 aus dem Spiegel erfahren, dass der Vater rassistische Sachen geschrieben hat, dass er die Waffen zurückfordert und die Webseite von seinem Sohn wieder online haben will. Niemand hat uns gewarnt. Ich wohne ganz ganz nah an dem Haus, in dem der Vater des Täters wohnt. Aber niemand von der Polizei ist zu uns gekommen und hat uns gefragt, ob wir Schutz brauchen. Es ging einfach so weiter.
Am 21.März 2021 haben die Anwälte Plottnitz und Frankenberg an das Hessische Innenministerium geschrieben. Sie haben in diesem Schreiben auch erklärt, dass es polizeiliches Versagen war, dass die Polizisten am Tatort nicht nach Ferhat geschaut haben.
Dass es ihre Amtspflicht ist, dass sie die Vitalfunktionen überprüfen und Erste Hilfe leisten. Um 22:14 Uhr ist das erste Mal jemand ins Kiosk gegangen und dann wieder um 22:18 Uhr und beide Male wurde nicht geschaut, ob Mercedes, Gökhan und Ferhat noch geatmet haben. Warum hat es fast eine halbe Stunde gedauert, bis ein Notarzt Ferhat untersuchte? Warum wurden sein Puls und seine Atmung – anders als bei den Opfern in der Arena-Bar – nicht sofort von den Polizeibeamten kontrolliert?
Die Staatsanwaltschaft Hanau hat dann am 16.November 2021 entschieden, dass das alles keine Rolle spielt. Weil mein Sohn sowieso gestorben wäre. Weil es nichts ausgemacht hätte, wenn ihm jemand geholfen oder auch nur nach ihm geschaut hätte. Aber diese Entscheidung ist wieder so, dass unsere Fragen nicht beantwortet werden. Und heute 23 Monate nach der Tat und nachdem die Staatsanwaltschaft Hanau sich damit beschäftigt hat, ob ermittelt werden sollte, gegen die am Tatort eingesetzten Beamten ist immer noch so vieles unklar.
Wie konnte sich die Rechtsmedizin so sicher sein, dass mein Sohn nur noch eine Minute gelebt hat, wenn Rechtsmediziner die Leiche meines Sohnes erst am 20.02. um 18:23 Uhr, angesehen haben? Also erst nachdem er schon 20 Stunden im Kiosk gelegen hat. Und wenn die Obduktion erst am 22.02.2020 um 9:35 Uhr begonnen wurde? Wie konnte der Rechtsmediziner behaupten, Ferhat habe höchstens 1 Minute nach den Schüssen gelebt, wenn er sich doch noch aufrichtete, nach seinem Handy suchte, zweimal sagte »Ich brenne« und hinter dem Tresen des Kiosks Schutz suchte?
Selbst wenn Ferhat sowieso gestorben wäre, weil er so schwer verletzt war: Er hätte wie jeder Mensch das Recht gehabt, dass alles getan wird, um ihn zu retten. Es konnte doch keiner wissen, ob er nicht doch noch am Leben ist, wenn sich niemand zu ihm beugt, um zu sehen, ob er noch atmet.
Warum musste ich so lange warten, bis mir gesagt wurde, dass Ferhat zu den Opfern gehörte? Warum wurde in aller Eile die Obduktion angeordnet, die dann sehr viel später ausgeführt wurde?
Warum durfte ich meinen Sohn nicht vor der Obduktion noch einmal sehen? Habe ich als Mutter nicht das Recht der Totenfürsorge für meinen Sohn? Und hat mein totes Kind nicht immer noch Würde?
Ich habe mich von der Polizei in der Nacht und auch danach nicht gut behandelt gefühlt. Ich habe das Vertrauen in die Polizei verloren.
Ich habe meinen Kindern beigebracht, die Polizei schützt uns.
Ich habe in der Nacht immer wieder gefragt und keine Antwort bekommen. Mein Sohn sagte in der Nacht, als wir keine Antworten bekamen, die sind Rassisten. Ich wollte nicht, dass er das sagt. Ich habe ihm in der Nacht gesagt, er soll nicht so reden. Aber er hatte vielleicht Recht. Heute weiß ich, dass es viele Rassisten und auch Rechtsextreme bei der Polizei gibt.
Ich und meine erwachsenen Kinder brauchen Gewissheit. Meinem kleinen Sohn muss ich später erklären können, was passiert ist.
Ich bringe meinen Kindern bei, dass man Verantwortung übernehmen muss, wenn man Fehler gemacht hat. Wie soll ich meinen Kindern erklären, dass niemand Verantwortung übernehmen muss dafür, dass Ferhat so würdelos behandelt wurde.
Keiner ist von offizieller Stelle gekommen, um uns zu helfen diese Fragen zu verstehen. Man hat mit uns gesprochen, um uns zu beruhigen. Die Opferbeauftragten haben uns besucht, Urlaub und anderes wurde uns angeboten. Aber wir haben keinen Ansprechpartner bei der Polizei, der uns all diese Fragen beantwortet hat zu Ferhat.
Ferhat ist mein ältester Sohn, mein erstgeborenes Kind. Er war noch so jung, sein Leben hatte kaum begonnen.
Die hintere Tür war immer angelehnt, weil er ständig seinen Schlüssel vergessen oder verlegt hat.
Jetzt habe ich Ängste, kann nicht schlafen und brauche einen großen Zaun um das Haus herum, um ein Gefühl von ein wenig Schutz oder Sicherheit zu haben. Eigentlich will ich ein offener Mensch sein, aber das geht jetzt nicht mehr so einfach.
Wie geht es uns heute?
Es ist heute genauso schwer für mich all diese Fragen zu stellen wie damals.
Es gibt den Schmerz, der geht nie weg. Ich habe vieles getan. Ich bin aktiv geworden. Ich habe mich auf den Kampf um die Gesellschaft konzentriert. Ich habe damit auch versucht diese Fragen von mir wegzuschieben. Ich habe versucht anders aktiv zu werden. Ich habe mir überlegt, es braucht die Jugend, um etwas zu verändern und ich habe meine Kraft in den Aufbau der Bildungsinitiative Ferhat Unvar gesteckt. Es war ein Weg mit dem Schmerz weiterzuleben.
Eine psychologische Betreuung kann ich vielleicht annehmen, wenn ich Antworten auf all diese Fragen finde. Ich habe es probiert, ich habe Termin wahrgenommen. Ich bin in psychiatrischer Behandlung und ich nehme Medikamente. Aber es ist nicht so, dass wir jetzt 23 Monate danach, etwas verarbeitet hätten.
So wie es gerade ist, so kann das Leben nicht weitergehen. Ein Teil von unserem Leben ist am 19.Februar 2020 stehen geblieben. Wir rennen weg vor diesem Thema, was passierte in dieser Nacht. Wir haben Angst. Wir können nicht darüber sprechen, weil der Schmerz zu gross ist.
Auch die Kinder. Selbst mein kleiner Sohn hat Angst davor. Er geht dem Thema aus dem Weg. Er hat Probleme in der Schule, die er vorher nicht hatte.
Meine Tochter versucht dem Thema auch aus dem Weg zu gehen. Sie hat ihr Abitur gemacht. Sie macht alles sehr gut. Aber sie kann nicht schlafen und hat schlimme Träume.
Mein älterer Sohn hat angefangen zu studieren. Aber auch er kann nicht vergessen. Was kostet das meine Kinder an Kraft. Der 19.Februar 2020 war ein Einschnitt für’s Leben.
Ich frage mich immer, wie das in der Zukunft werden soll. Wir haben Angst uns mit dieser Nacht zu konfrontieren. Wir können immer noch nicht akzeptieren, dass Ferhat tot ist. Ich sage niemals »Ich gehe zum Friedhof.« Ich sage immer: »Ich gehe zu Ferhat.« Ich weiß nicht, wann ich das irgendwann akzeptieren kann.
Ich habe die Bildungsinitiative gegründet, aber das habe ich auch gemacht damit ich irgendwie mit diesem Schmerz weiterleben kann. Aber das heißt nicht, dass der Schmerz weniger wird. Das ist kein Happy End.
Ich denke immer wieder darüber nach, wie hat sich Ferhat gefühlt, als er getroffen wurde von den Schüssen. Die Vorstellung, dass mein Sohn von den Schüssen getroffen wird und keiner guckt nach ihm das ist ein unbeschreiblicher Schmerz. Das ist ein großer Schmerz bei mir und der geht nie weg.
Ich will drauf vertrauen, dass Sie meine Fragen ernst nehmen.
Ich will, dass Verantwortung übernommen wird. Dass das Leben unserer Kinder genau so viel wert ist, wie das Leben aller Kinder mit blonden Haaren.
Ich will Antworten haben. Der Fisch stinkt vom Kopf, es ist nicht nur die Gesellschaft, die sich verändern muss. Es müssen sich auch die Strukturen ändern, die diesen Mörder nicht gestoppt haben. Was wollen Sie tun, damit so etwas nie wieder passiert? Was ist Ihr Plan damit das nie wieder passiert?
Nach dem Eingangsstatement begann die Fragerunde. Die meisten Fraktionen beteuerten zu Beginn der ersten Fragerunde ihr Beileid.
Der Ausschussvorsitzende Markus Weiß begann mit der Fragerunde, danach folgten die anderen Obleute reihum.
Auch hier beschäftigen sich viele Fragen mit den Ermittlungsbehörden ihren Umgang mit Serpil Unvar in der Tatnacht. Außerdem zielen die Fragen erneut auf die medizinische und psychologische Versorgung in der Tatnacht und danach. Frau Unvar gibt an, dass die Polizisten nicht darauf reagierten, dass sie eine Angehörige ist. In der Halle habe man ihr Beruhigungsmittel gegeben.
Auf Nachfrage erklärt sie, dass der späte Todeszeitpunkt von Ferhat erst sehr viel später in der Sterbeurkunde aufgefallen war, dass schockte sie zutiefst. Auf Nachfrage der CDU wurde später zu dem ergänzt, dass die Einsatzprotokolle der Sanitäter bis dato nicht der Akte beilegen.
Auch sie erhielt eine Gefährderansprachen der Polizei nach Rückkehr des Vaters des Täters. Bei dieser wurde ihr gesagt: »Passen Sie auf die Kinder auf, dass die dem Vater nichts antun?«
Verschiedene Abgeordnete erkundigen sich außerdem nach Gesprächen mit Herr Fünfsinn und anderen Opferbeauftragten, wie Herrn Franke. Außerdem wird nach Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten, Innenminister oder Polizeipräsidenten gefragt.
Sie gibt an, dass sie einen Brief vom Bundespräsidenten bekommen habe, Gespräche mit der Polizei haben nicht stattgefunden. Außerdem habe Herr Franke mit einer Mitarbeiterin besucht.
Des Weiteren fragen die Abgeordneten, ob Frau Unvar der Name Bodenstädt bekannt wäre? (Migrationsbeauftragte der Polizei). Dies ist nicht der Fall.
Außerdem wird Frau Unvar darauf hingewiesen, dass in der Akte vermerkt ist, dass sie zu der Obduktion ihres Sohnes vernommen wurde. Und dass ihr Einverständnis zu dieser eingeholt wurde. Frau Unvar gibt an, dass beides nicht stimmt.
Auf Nachfrage nach dem gewünschten Umgang mit der Obduktion ihres Sohnes gibt Frau Unvar zu verstehen, dass sie ihren Sohn gerne nochmal vor der Obduktion gesehen hätte.
Die Fraktion der Grünen erkundigt sich außerdem nach dem Ablauf im Bus, der die Angehörigen in die Halle im Lamboy bringen sollte. Die Frage zielte darauf ab, ob ihrer großen Tochter verwehrt wurde, denn Bus zu verlassen, um zu ihrem kleinen Kind zu gehen. Frau Unvar entgegnet, dass ihre große Tochter nicht erlaubt wurde den Bus zu verlassen und dass ihre Schwesteraus Frankfurt zu diesem fuhr, um ihn zu beaufsichtigen. Frau Unvar gibt an, dass dieser deswegen lange Zeit allein zu Hause sein musste. Die Fraktion der Linken erfragt hier, wer in diesem Bus, außer den Angehörigen sonst noch anwesend war. Frau Unvar gibt an, dass Sie dies nicht wisse.
Zum Schluss gibt Serpil Temiz Unvar ein Abschlussstatement ab:
Dieser Untersuchungsausschuss ist für uns Familien sehr wichtig. Wir haben dafür gekämpft.
Viele Fragen zu dem Geschehen stellen sich alle Angehörigen, Verletzten und Überlebenden der Tatnacht gemeinsam und wir stellen sie auch hier im Untersuchungsausschuss:
- Hätten die Morde verhindert werden können?
- Welche rassistischen und rechten Strömungen ermöglichen eine solche Tat?
- Wird wirklich etwas getan werden, um solche Angriffe in der Zukunft zu verhindern?
- Wird es eine vollständige Aufklärung geben?
Wir wollen Aufklärung und Antworten auf unsere vielen Fragen.
Das ist jetzt Ihre Aufgabe. Sorgen Sie dafür, dass es mit den Ausreden und Ausflüchten der Behörden ein Ende hat! Es sind bei den Ermittlungen Fehler gemacht worden. Diese sollten aufgeklärt und eingestanden werden. Aufklärung ist die Bedingung für Konsequenzen und Veränderung in der Zukunft.
In meinem ersten Brief an Frau Merkel habe ich geschrieben, dass diese Tat aufgeklärt werden muss, damit mein Sohn nicht ein zweites Mal getötet wird. Ich habe das mit viel Hoffnung geschrieben, dass wirklich lückenlos aufgeklärt wird. Diese Hoffnung in die Politik habe ich inzwischen nicht mehr. Aber egal, was am Ende bei diesem Untersuchungsausschuss herauskommt: Meine Hoffnung und meine Kraft ist die Gesellschaft.
Bis jetzt wurde immer wieder gesagt »Einzeltäter« und keiner hat sich der Verantwortung gestellt. Es gibt Lücken in Euren Gesetzen. Es gibt damit viel Platz für diese vielen rassistischen Einzeltäter. Rassistische Morde haben niemals aufgehört. Das heißt, dass es ein Defizit in diesem System gibt, das endlich gelöst werden muss.
Aber diesmal kann niemand einfach sagen »Einzeltäter« und dann die Akten schließen und dann war’s das. Denn das haben wir gelernt in diesen 23 Monaten: wenn genug Druck von der Gesellschaft kommt, dann geht das nicht so einfach. Wir haben auch gelernt, dass es viele Menschen gibt, hier in Deutschland, die nicht wollen, dass sich die rassistische Gewalt immer wieder wiederholt. Große Teile der Gesellschaft wollen, dass das endlich aufhört.
Wenn die Gesellschaft sich verändert und etwas in Bewegung gerät, dann entsteht etwas Neues.
Es ist nicht wie früher: wir halten zusammen und wollen etwas verändern. Für die Zukunft. Wir haben in Hanau gezeigt: wir können was schaffen alle zusammen. Wir haben die ersten Schritte gemacht. In Hanau kämpfen wir auch für viele andere Opfer rassistischer Anschläge. Über all diese sinnlosen Tode soll etwas Neues geboren werden, etwas anderes. Und das machen wir.
Ihr Politiker redet ganz schön jetzt. Aber es darf nicht bei Worten bleiben. Wir vergessen nicht, was ihr gesagt habt. Wir werden Euch an alle Versprechen erinnern.
Manche sagen, dass auch mal Schluss sein muss – und dass es nach 2 Jahren mit dem Thema Hanau reicht.
So lange die Tat nicht wirklich aufgeklärt ist, so lange nicht eingestanden wurde, dass nach den Morden von Polizei und Staatsanwaltschaft Fehler begangen wurden, kann die Akte Hanau nicht geschlossen werden.
Aber das ist nicht für uns allein, dass wir weiter laut sind. Ich habe die Verantwortung übernommen – so lange weiter zu machen, wie ich kann. Ich als Mutter habe die Leiche von meinem Sohn umarmt und geküsst. Das was ich tue, das ist nicht für mich. Ferhat und all unsere Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein. Die Zukunft liegt in unseren Händen.
Was wollen Sie wirklich tun, damit sich etwas verändert? Was tun Sie ganz konkret, damit das rassistische Morden ein Ende hat? Wir haben viele schöne Reden gehört in all diesen Monaten. Aber wir wollen auch Konsequenzen sehen. Auch Sie alle frage ich: wollen Sie etwas verändern in dieser Gesellschaft? Dann kommen Sie mit.
Wenn wir das geschafft haben für die Zukunft, dann bleiben ihre Namen und die Erinnerung für immer lebendig. Mein Sohn hat das auf sein Facebook geschrieben: «Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.«
Mit dem Abschlussstatement von Frau Unvar endet die 4. Sitzung des Untersuchungsausschusses zu den rassistischen Morden vom 19. Februar 2020 in Hanau