6. Sitzung
Rassismus und psychische Erkrankung des Täters »untrennbar miteinander verwoben«
In der fünften öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag in Hanau sagte Prof. Dr. Henning Saß aus, der ein Gutachten, allein basierend auf Akten, über den Täter und dessen Vater erstellte. Darin kam er zu dem Schluss, dass der Täter unter einer paranoiden Schizophrenie und Wahnvorstellungen litt, zu welchen ein ausgeprägter Rassismus hinzu kam.
Die fünfte öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag zum rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 war die erste Sitzung, in der nicht die Angehörigen und Überlebenden sprachen, sondern Sachverständige als Zeug*innen geladen waren. Ein zweiter geladener Sachverständiger musste für die Sitzung krankheitsbedingt absagen. Daher war Prof Dr. Henning Saß von der Universitätsklinik in Aachen der einzige öffentliche Zeuge für diesen Tag. In öffentlicher Sitzung sagte er zu seinem Gutachten über den Attentäter von Hanau aus. Im Anschluss erzählte er aufgrund von Persönlichkeitsrechten in nicht-öffentlicher Sitzung von dem Gutachten zu dessen Vater.
Saß begann mit einem längeren Eingangsstatement, in der er sein psychiatrisches Gutachten über den Täter zusammenfasste: Er wurde von der Bundesanwaltschaft (BAW) im März 2020 beauftragt, ein Gutachten über den Täter zu erstellen. Da dieser sich in der Tatnacht am 19. Februar selbst tötete, wurde das Gutachten nur aufgrund von umfangreichen Akten erstellt. Saß habe das Gutachten im August 2020 eingereicht, eine danach erfolgte Auswertung der elektronischen Daten des Täters wurde hierfür nicht mehr einbezogen.
Saß begann seine Ausführungen zum Gutachten damit, dass er kurz den Lebenslauf des Täters skizzierte: Dieser sei in Hanau aufgewachsen, die Familie sei ein eher schwieriges Umfeld gewesen, der Vater sehr streng, die Mutter »eher weich und schwach, später kränklich«. Er war Einzelkind und sei mit wenig Kontakten aufgewachsen. Er habe das Gymnasium besucht, als 15-Jähriger einen USA-Austausch gemacht, später eine Bankkauflehre abgeschlossen und BWL in Bayreuth studiert. Wichtig sei aus psychiatrischer Sicht das Fehlen intimer Beziehungen und eine »Diskrepanz zwischen Anstrengungen und materieller Enge«.
Zum Krankheitsbeginn bei dem späteren Täter führte Saß aus, dass dieser erstmals 2001 psychiatrisch auffällig wurde. Dieser habe im ersten Semester seines Studiums in Bayreuth eine »einseitige Beziehung« zu einer Kommilitonin entwickelte, die sich hierdurch bedrängt fühlte [was Saß als »einseitige Beziehung« beschreibt lässt sich vermutlich als Stalking bezeichnen, Anm. d. A.]. Der spätere Täter entwickelte die wahnhafte Vorstellung, dass er von den Eltern der Frau unter Beteiligung von Nachrichtendiensten überwacht werde und stellte bei der Polizei Anzeige, er habe sich »psychisch vergewaltigt« gefühlt. Die Anzeige habe zu einer kurzzeitigen psychiatrischen Unterbringung des Täters wegen suizidaler Gefährdung geführt. In einer ersten Untersuchung wurden ihm Wahnvorstellungen und Halluzinationen diagnostiziert. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass sein Wahn nicht echt sei. Es habe der Verdacht auf eine wahnhafte Störung und Schizophrenie als Diagnose vorgelegen. Der Vater des späteren Täters habe damals Anzeige wegen Freiheitsberaubung gestellt und seinen Sohn nach einem Tag wieder aus der Klinik abgeholt, »leider«, wie der Sachverständige im Ausschuss betonte.
Im April 2002 wurde erneut ein psychiatrisches Gutachten des späteren Täters erstellt, dass ihm bescheinigte unauffällig zu sein. Es habe sich im Jahr zuvor demnach um eine Ausnahme gehandelt aufgrund eines »Konflikts« mit der Kommilitonin und der Belastung des Studiums. Der Wahn habe aber angehalten: 2003 schrieb er einen Brief an die Kommilitonin mit »wilden Vorstellungen über Verfolgungen«. Auch habe er wenig später bei der Polizei in Hanau Anzeige erstattet, weil er sich von der CIA verfolgt fühlte. Später stellte er eine ähnliche Anzeige in Offenbach. Dem wurde damals anscheinend nicht weiter nachgegangen, so Saß. In den Akten ließen sich keine Hinweise auf Überwachungsmaßnahmen finden., der Fall wurde zu den Akten gelegt. Danach sei er aus psychiatrischer Sicht nicht mehr auffällig gewesen und habe ein unauffälliges Leben geführt, wie es seine Kollegen beschrieben.
Zu seiner Radikalisierung sagte Saß auf Basis der Akten, dass der spätere Täter durch seinen Vater seit seiner Kindheit Kontakt mit »nationalkonservativem Gedankengut« gehabt hätte. In der Schule hätte der spätere Täter vereinzelt »Äußerungen gegen Ausländer getätigt« und später antisemitische und rassistische Sprüche geäußert, so der Gutachter. Zwischen 2013 und 2019 habe er bei Amazon 45 Bestellungen zu Geschichte des Nationalsozialismus und Militärgeschichte bestellt, allerdings keine indizierten Bücher, worauf Saß explizit hinwies. Insgesamt habe er sich mit rechtem Gedankengut beschäftigt. Er sei AfD-Wähler gewesen und habe gesagt, die AfD sei »nicht radikal genug«. Über die Jahre ließe sich hier seit seinem Elternhaus ein Interesse an rechtsradikalen Positionen erkennen, so Saß.
Seit seiner Jugend habe der Täter eine Affinität zu Waffen gehabt. 2013 trat er in den Schützenverein ein. 2013 erwarb er eine Pistole, 2018 eine zweite. 2017, 2018 und 2019 nahm er an Schießtrainings bei einem Schützenverein in München teil, 2019 war er bei einem Gefechtstraining in der Slowakei. Dort sei er auf eine schwarze Liste gekommen, weil ihm nicht getraut wurde. Im September 2019 wollte er bei einem »tactival combat training« teilnehmen, wurde aber abgelehnt, da er den Veranstaltern psychisch auffällig erschien, etwa durch starkes Zittern.
Im November 2019 habe der spätere Täter umfangreiche, 19 Seiten lange, fast gleichlautende Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Hanau und der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen eine unbekannte Geheimorganisation gestellt. Der Inhalt entspreche weitgehend dem, was er später auf seiner Website veröffentlicht habe. Nur die umfangreichen rassistischen Passagen habe er gezielt und aus taktischen Gründen nicht mit in die Strafanzeige aufgenommen. Als auf die Anzeigen keine Reaktion erfolgte, habe er eine Detektei angeheuert, um dem nachzugehen. Dies zeige, wie fest er von der Richtigkeit seiner Wahnvorstellungen überzeugt gewesen sei. Im Frühjahr 2019 habe er eine große »Sammeldatei« mit rechtsextremen Inhalten und Verschwörungstheorien erstellt, die Vorläufer seiner späteren Inhalte auf der Website. Er habe versucht Kontakt aufzunehmen zu den Geheimdiensten »Militärischer Abschirmdienst« (MAD) und »Verfassungsschutz« (VS) und versucht einen Termin bei der Kanzlerin zu machen, so Saß. Sein später auf der Website veröffentlichtes Video habe er teils professionell in einem Studio in München aufgenommen. Dies zeige, dass er nicht verwirrt war und das, was er dachte, klar gefasst hat, so Saß.
Ähnliches äußerte der Gutachter auch über den Tathergang: Rein äußerlich beging der Täter die Tat geordnet und leistungsfähig. Er habe die Tatorte zuvor teilweise ausgespäht, seine Tat akribisch vorbereitet, es lägen keine Hinweise auf eine »formale Denkstörung« vor. Auch die Tat selbst zeige ein »hohes operatives Leistungsvermögen und Reaktionsvermögen«. Saß diagnostizierte dem Täter eine schizophrene Wahnerkrankung seit ungefähr 2001, wobei der Täter zwischen 2005 und 2019 ohne größere Auffälligkeiten leben konnte. Zu den schizophrenen Inhalten, die seit 2001 bestanden, seien ergänzend ideologische Komponenten reingekommen, etwa Rassismus, »Ausländerfeindlichkeit«, eine »Idealisierung des deutschen Volkes« und der Wunsch, die Bevölkerung zu »säubern«. Hinzu kämen noch allerhand Verschwörungsgedanken zu »Pizza Gate«, »Q-Anon«, einem »deep State« uvm.
Abschließend seines Vortrags resümierte Saß, im Vordergrund des Täters hätte ein Verfolgungs- und Größenwahnsystem bestanden, bei dem man annehmen müsse, dass es die ganze Zeit über da war und sich zu einer krankhaften Weltsicht wandete. In diesem »tiefgreifend Persönlichkeits-deformierenden Wahnsystem« hätten eine zentrale Bedeutung der Verfolgungswahn durch Geheimdienste, später träten hier Rassismus und »Fremdenfeindlichkeit« hinzu. Laut Saß seien die Geheimorganisationen für den Täter nicht fassbar, weswegen sich der Hass dann auf Muslime konzentriert habe. Sein Ziel sei es gewesen, ein Fanal zu setzen und als Märtyrer wirksam zu werden.
Befragung des Sachverständigen Saß
In der anschließenden Befragung durch des Ausschuss fragte der Vorsitzende Weiß den Gutachter, ob auch ein Strafverfahren in München gegen den späteren Täter mit in das Gutachten eingeflossen sei. Saß erklärte, da sei es um Auseinandersetzungen mit der Vermieterin des Täters wegen Rauschgiftkonsum gegangen, das habe seiner Einschätzung nach aber keinerlei Bedeutung. Gelegentlicher Konsum und Besitz des Täters sei ihm bekannt, ein massiver Missbrauch von Drogen aber nicht. Umfangreiche Analysen der Onlineaktivitäten des Täters seien erst nach seinem Gutachten fertiggestellt worden und daher nicht mehr darin eingeflossen.
Mehrere Abgeordnete stellten Nachfragen zum psychischen Wahn des Täters bei nach außen hin unauffälliger Leistungsfähigkeit, sein Leben zu gestalten und wie dies zusammen passe. Saß sprach davon, dass es in diesem Fall frappierend sei: Der Täter hätte einen intensiven psychischen Wahn gehabt, trotzdem seien Teile seiner Persönlichkeit in Takt geblieben, sodass er alles machen konnte. Auf der »operativen Ebene« sei er handlungsfähig und geordnet-, in anderen Teilen seinen Bewusstseins sei er erfüllt von Wahn und Rassismus gewesen. Er gehe davon aus, dass beim Täter der Wahn dauerhaft vorhanden war, aber nach und nach größer und größer wurde, so der Gutachter. Unklar sei, was zwischen 2005 und 2019 war, da der Täter hier relativ ruhig gewesen sei. Er gehe aber nicht davon aus, dass der Wahn hier weg gewesen sei. Hätte der Täter sich nicht selbst getötet, wäre er in einem Gerichtsprozess aller Wahrscheinlichkeit nach schuldunfähig gesprochen worden. Auf die Frage nach den Gründen für die wahnhafte Erkrankung gab der Gutachter an, dass ihm keine besonderen Erkenntnisse für den Ausbruch vorlägen. Manchmal käme eine solche Erkrankung einfach so, manchmal bei Druck und in Krisen. 2001 war der Täter in einer Klausurphase gewesen, hinzu käme die »unerwiderte Liebe«.
Seine Tat habe der Täter in den Monaten zuvor akribisch vorbereitet. Zu Beginn habe er unterschiedliche Pläne gehabt. Im Internetverlauf des Täters wurde auch die Suche nach einer Schule in Frankfurt gefunden, die der Sachverständige als Überlegung für ein potentielles Anschlagsziel wertete. Der Täter habe unterschiedliche Shisha-Bars ausspioniert und sich schließlich für eine entschieden, so Saß. Er gehe von einem langsamen Heranreifen des Plans aus und dass die Vorstellungen hiervon mit seiner Rückkehr von München nach Hanau gewachsen seien. Ende 2018 habe sich der Täter vermutlich psychisch labilisiert und habe sich dann in eine Richtung begeben, die in der Tat gemündet sei. Auf die Nachfrage der AfD, ob auch ein Anschlag auf Behörden denkbar gewesen sei weil der Täter »behördenkritisch« gedacht habe, antwortete der Gutachter, dass dies hypothetisch denkbar, aber in der Richtung nichts belegt sei. Rassismus spielte eine wichtige Rolle bei ihm.
Immer wieder fragten Abgeordneten den Gutachter direkt oder indirekt, ob seiner Einschätzung nach die psychische Erkrankung und Gefährlichkeit des Täters nach außen hin erkennbar gewesen sei. Der Gutachter gab an, dass die Anzeigen für jemanden mit fachlichem Hintergrund ein klarer Hinweis auf eine psychische Erkrankung seien. Auf die Frage der LINKEN-Abgeordneten Sönmez, ob die Staatsanwaltschaft den Anzeigen des Täters mehr hätte nachgehen müssen, gab der Gutachter an, dies sei keine Fachfrage an ihn. Er machte aber deutlich, dass er die Verbindung von Waffenbesitz und psychischer Erkrankung für eine »brisante Mischung« halte. Die Einschätzung der Klinik, in der der Täter 2002 kurzzeitig eingewiesen wurde, sei aus heutiger Sicht fehlerhaft, aus damaliger Sicht aber nicht vorzuwerfen. Retrospektiv hätten die Videos, die der Täter ins Netz stellte, ein Alarmsignal sein müssen. Auf die von Saß genannte »operative Leistungsfähigkeit« des Täters bezogen, fragte der CDU-Abgeordnete Müller, ob der Täter bei einer Vernehmung sich hätte ausreichend verstellen können, um seinen Wahn zu verbergen. Saß gab an, dass er sich dies gut vorstellen könne. Seinen Wahn, durch Geheimdienste verfolgt zu werden, hätte er vermutlich geäußert, ob seine Attentatspläne auch, bezweifelte der Gutachter. Für eine Befragung hätte aber ein konkreter Anhaltspunkt vorliegen müssen. Der Waffenbesitz in Kombination mit dem »combat training« hätten dies aber möglicherweise sein können.
Überlegungen, ob der Besitz von Waffen an einen Test zur psychischen Eignung geknüpft werden solle, sah Saß kritisch. Einen Ankreuztest hätte der Täter aller Voraussicht nach bestanden, anders sähe es aus, wenn dieser einen Tag in der Klinik verbracht hätte und untersucht worden sei. Da hätten alle Warnsignale hochgehen müssen. Der Verdacht auf eine psychische Erkrankung und Waffenbesitz passten psychiatrisch gesehen nicht zusammen. Allerdings könne man auch niemandem, der in der Jugend mal krank gewesen sei ein Leben lang belasten. Wünschenswert wären bessere Untersuchungen.
Immer wieder wurde der Gutachter Saß nach dem Rassismus des Täters, wie sich dieser zeigte und in welchem Zusammenhang dieser mit dem Wahn des Täters stand. Auf Frage des CDU-Abgeordneten Müller führte Saß aus, im Elternhaus des Täters sei diesem eine »rechtskonservative und nationalistische Grundeinstellung«, dass in Deutschland zu viele Ausländer lebten, vermittelt worden. Als Schüler sei er in Kontakt mit den Mitschülern zwar rassistisch aufgefallen, aber »nicht drastisch rassistisch, nur ein bisschen«. Laut dem Gutachter sei der Täter AfD-Wähler gewesen und habe anderen gegenüber geäußert, die AfD sei nichts rechts genug. Saß ordnete den Täter in frühen Jahren als »rechtskonservativ, aber nicht rechtsextrem« ein. Der GRÜNEN-Abgeordnete Burcu merkte daraufhin an, dass es »nicht nur ein bisschen rassistisch sondern rassistisch« sei, zu sagen die AfD sei recht genug. Der Sachverstände stimmte ihm daraufhin zu. Ihm sei es darum gegangen deutlich zu machen, dass die rassistischen Einstellungen in früheren Jahren deutlich geringer waren als in späteren und er davon ausgehe, dass diese über die Jahre zugenommen hätten. Sein Verfolgungswahn sei zentral und schon lange vorhanden gewesen, darauf aufgesetzt hätten sich durch Elternhaus rechtskonservative, rassistische und »fremdenfeindliche« Einstellungen. Diese hätten nicht unbedingt miteinander was zu tun, aber eine Schizophrenie führe zu einem Kritikunvermögen, das zu einer rassistischen Weltsicht führe.
Die AfD fragte kurz vor Ende, nachdem Saß bereits mehrere Stunden hierüber sprach, noch einmal, was denn jetzt ausschlaggebend für die Tat gewesen sei, die psychische Erkrankung oder der Rassismus. Saß erklärte daraufhin, dass sich beide unterschiedlichen Bereiche durchmischt hätten und »untrennbar im Bewusstsein miteinander verwoben« seien. Die rassistischen Elemente entwickelten sich auf dem Boden einer durch Wahnkrankheit verformten Persönlichkeit. Auf die Frage der LINKEN-Abgeordneten Sönmez, ob für die Ausbildung der rassistischen Ideologie der gesellschaftliche Nährboden, etwa eine Berichterstattung gegen Shisha-Bars mit dem Höhepunkt 2019/2020, in der diese als Horte der Kriminalität dargestellt wurden, eine Rolle spiele, antwortete Saß, dass dies zweifellos so sei: Die Entwicklung von Wahnvorstellungen geschähen nicht im luftleeren Raum, sondern seien beeinflusst vom Zeitgeist und Themen, die gesellschaftlich eine große Rolle spielten.
Damit endete die mehrere Stunden dauernde Befragung des psychiatrischen Sachverständigen Henning Saß. Er machte immer wieder den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und rassistischer Ideologie des Täters deutlich, traf jedoch mitunter auch sehr klare Aussagen über den Täter, den er persönlich niemals getroffen hatte sondern nur aus dessen Schriften kannte.