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18.07.2022

14. Sitzung

»Das war mir zu dem Zeitpunkt tatsächlich nicht bekannt, dass es keinen Notrufüberlauf gibt.«

In der 13. öffentlichen Sitzung des Untersuchungs­ausschusses zu den rassistischen Anschlägen in Hanau ging es erneut um den unzulänglich erreichbaren Notruf in der Tatnacht. Der Skandal hierzu weitete sich in der Sitzung weiter aus: Sowohl zwei in der Tatnacht wachhabende Beamt*innen, als auch der Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig und der Präsident des Polizeipräsidiums Südosthessen gaben an, nicht gewusst zu haben, dass nicht angenommene Notrufe im Polizeirevier Hanau 1 nicht weitergeleitet werden. In der gut 11-stündigen Befragung ging es unter anderem darum, wie glaubwürdig diese Angaben, insbesondere der letzten beiden, sind.

Der Untersuchungs­ausschuss zum rassistischen Anschlag in Hanau vom 19.02.2020 soll der Frage nachgehen, inwieweit staatliche Behörden Fehler begangen haben, die dazu führten, dass der Anschlag mit neun Toten so stattfand, wie er stattgefunden hat. Ein besonders relevanter Aspekt in einer möglichen »Kette des Versagens« (Initiative 19. Februar) ist der unzulänglich erreichbare Polizeinotruf: Villi Viorel Paun verfolgte den Täter in der Tatnacht mehrere Kilometer weit vom ersten bis zum zweiten Tatort und versuchte währenddessen mehrfach die Polizei zu erreichen. Dreimal wählte er die 110, kam jedoch nicht durch. Nicht angenommene Anrufe wurden bei der Polizei nicht registriert. Es steht die Frage im Raum, ob Villi der Polizei wichtige Informationen zum aktuellen Aufenthaltsort des Täters hätte geben und so weitere Todesopfer verhindern können, oder zumindest von der Polizei hätte gewarnt werden können und so selbst hätte überleben können, wenn er beim Notruf durchgekommen wäre.

Bei der Polizeiwache Hanau 1 standen zwei Arbeitsplätze mit Telefon zur Verfügung, um Notrufe anzunehmen. Hiervon war in der Tatnacht die meiste Zeit nur einer besetzt. Bereits Anfang 2021 kam heraus, dass für das Notrufsystem in der Wache keine sogenannter Notrufüberlauf zur Verfügung stand. Das heißt, dass Notrufe, die nicht angenommen wurden, nicht an eine andere Polizeistation weitergeleitet wurden. Anrufer*innen hörten entweder ein Besetzt-Zeichen oder nur Stille. Der Notruf in der Station Hanau 1 ist für die Städte Hanau und Maintal und damit für ein Gebiet mit ca. 140.000 Einwohner*innen zuständig.

Als erste Zeugin des Tages wurde die Polizeioberkommissarin Martha S. vernommen, die in der Tatnacht in der Polizeibustation Hanau 1 Dienst hatte und den ersten Notruf annahm. Sie beschrieb auf Nachfrage die Personalsituation am Tatabend. Sie seien mit der Mindeststärke vertreten gewesen, das heißt ein Dienstgruppenleiter und sechs ausgebildete Beamten, dazu noch zwei Praktikanten. Drei Beamte seien dann wegen einer Entschärfung einer Weltkriegsbombe abkommandiert worden, um dabei zu unterstützen. Um kurz vor 22 Uhr traf der erste Notruf zur Tat ein. Darin wurde berichtet, dass am Heumarkt Schüsse gefallen seien und es Tote und Verletzte gebe. S. gab an, den Anrufer gebeten haben dran zu bleiben, die Einsatzzentrale und einen Kollegen, der mit einem Praktikanten auf Streife war, informiert zu haben und dann weiter mit dem Anrufer gesprochen zu haben. Dieser habe Angst um sein Leben gehabt und musste beruhigt werden. Als sie den Anruf beendete, nahm sie direkt den nächsten an.

Ihr Kollege Andreas N. habe kurz nach ihr einen zweiten Notruf über die zweite Leitung angenommen, habe sie gefragt ob es bei ihrem Notruf auch um Schüsse am Heumarkt gegangen sei, und sei nach ihrer bejahenden Antwort dann auch dorthin rausgefahren. Etwa 30 bis 60 Minuten sei sie alleine gewesen am Notruf. Die zweite Kollegin auf der Wache, Frau H., sei mit der Aufnahme einer Anzeige in einem der Büros beschäftigt gewesen. Als sie hiermit fertig war und über die Schüsse informiert wurde, fuhr sie zum Tatort um den Kollegen besondere Schutzausrüstung zu bringen. Während sie die Anzeige aufnahm wurde Frau H. nicht über die Lage informiert. Martha S. gab an, hätte sie eine freie Minute gehabt, hätte sie die Kollegin H. über Telefon informieren können, hatte sie jedoch nicht, weil sie mit den Notrufen beschäftigt war.

Auf die Fragen zum Notrufsystem gab sie an, dass es häufiger bei ihren Vorgesetzten kritisiert wurde, dass in der Regel nur eine Person für zwei Notrufplätze zuständig sei. Von dem fehlenden Überlauf habe sie in der Tatnacht aber nichts gewusst, das habe sie erst danach erfahren. Sie sei immer davon ausgegangen, wenn jemand die 110 wähle, würde derjenige schon »irgendwo rauskommen«. Dass man dann ein Besetztzeichen hört, hätte sie sich nie vorstellen können. Auf die Frage, ob das nicht Teil der Einarbeitung auf der Dienststelle gewesenen sei gab Marta St. an, dass man hauptsächlich beobachte, wenn man auf eine neue Dienststelle komme, es sei »learning by doing«. Explizit thematisiert hätte den fehlenden Überlauf beim Notruf niemand.

Zur Frage der Vorbereitung auf solche Situationen und den Umgang am Notruf gab sie an, dass in so einer Situation nichts routiniert laufe. »So etwas hat uns niemand beigebracht«. Trotzdem blieb sie dabei, dass sie und ihre Kollegen in der Tatnacht alles richtig gemacht hätten. Auch wenn sie von dem fehlenden Überlaufsystem gewusst hätte, hätte sie nicht anders gehandelt, so S.

Auch zweiter Polizist wusste nichts von fehlendem Notrufüberlauf

Als zweiter Zeuge wurde der bereits erwähnte Polizist Andreas N. befragt, der den zweiten Notruf zum Anschlag annahm und daraufhin mit einem Praktikanten zum ersten Tatort fuhr. Auch er gab an, von der fehlen Überlauffunktion des Notrufs nichts gewusst zu haben. Erst nach dem 19.02.20 hätte er davon erfahren, er sei immer davon ausgegangen, dass der Notruf zur Leitstelle weitergeleitet werden würde, wenn er nicht angenommen worden sei. Aus seiner Sicht wusste niemand auf der Wache, dass es einen Überlauf bei Notrufen nicht gab. Auch er berichtete, keine Einweisung hierzu bekommen zu haben und ein hohes Notrufaufkommen nicht extra trainiert zu haben. Auf Nachfrage der SPD, ob es vorher mal vorgekommen sei, dass bei beiden Apparaten Notrufe eingingen und niemand den zweiten Notruf annehmen konnte, sagte N.: »Ja klar kam das mal vor«. Man habe als wachhabender Beamter zwei Amtsleitungen, zwei Notrufe und den »Kundenverkehr« betreuen müssen, wenn man gerade alleine war. Ob er anders gehandelt hätte, wenn er von dem fehlenden Überlauf gewusst habe, konnte er nicht sagen. Dies sei eine hypothetische Frage, so Andreas N.

Er sei sich nicht mehr sicher, ob er in dem Moment gewusst habe, dass seine Kollegin Frau H. auch auf der Wache gewesen wäre. Wenn ja hätte es ungefähr 1-2 Minuten gedauert sie zu finden und sie über die Lage zu informieren, schätzte N. Ob er sie informiert hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie auch da war konnte er nicht sagen. Er ging davon aus, dass die Notrufe weitergeleitet werden.

Rausgefahren sei er, weil er die Gefahrenabwehr vor Ort wichtiger fand und nicht wusste, dass es keinen Überlauf gab. Die Entscheidung sei für ihn klar gewesen: »Es gab eine akute Bedrohungslage, also musste ich raus«, so N. Ob er in der Rückschau sich wünschte, etwas anders gemacht zu haben, konnte N. nicht genau sagen, die sei eine schwierige Frage, aber er denke nicht. Ob es am Tatverlauf etwas geändert hätte, wenn ein Überlauf dagewesen wäre, konnte er nicht sagen. Aus seiner Sicht hätte es vermutlich auch nichts geändert, wenn Villi beim Notruf durchgekommen wäre. Gleichzeitig gab er aber an, dass sie jedem Anrufer raten würden, Abstand zum Täter zu halten und nicht in dessen Sichtfeld zu bleiben.

Leiter Polizeidirektion: Weitere zeitgleiche Notrufe wären »einfach verpufft«

Als dritter Zeuge der Sitzung wurde der 55jährige Jürgen Fehler befragt, der seit 2018 Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig ist (bis Ende 2022). Bereits zehn Jahre zuvor leitete er die Polizeidirektion des Kreises für zwei Jahre. In seinem Eingangsstatement führte Fehler aus, dass die Notrufleitstelle im Revier Hanau 1 mit der Reform 2001 geschlossen wurde, als die Polizeidirektion dem Polizeipräsidium Südosthessen (PPSOH) untergeordnet wurde. Notrufe wurden danach in den Schichtdienst der Polizeistation Hanau 1 weitergeleitet. Fehler berichtete über eine Vielzahl an Beschwerden über die »Missstände« bezüglich des Notrufs seit 2001, wonach es in der Station Hanau 1 zu wenig Personal und mehrere Jahre auch nur eine Notrufleitung gab. Der Behördenleiter habe sich 2006 gegen eine regionale Aufteilung der Notrufe von Hanau 1 auf andere Polizeiwachen entschieden, stattdessen wurde 2007 beschlossen, den Notruf im Polizeipräsidium zu zentralisieren, sodass alle Notrufe dort eingingen. Dies geschah aber tatsächlich erst nach dem Anschlag in Hanau. Als Grund gab Fehler die Verzögerung beim Neubau des Polizeipräsidiums an, der sich immer weiter nach hinten verschob. Zuletzt hätte es 2019 eine Beschwerde des Stationsleiter von Hanau 1 gegeben, in der er »auf die Problematik der zwei Notrufleitungen« und zu wenig Personal hinwies. Er, Fehler, habe das Schreiben mit Bitte um mehr Personal unterstützt und an den Leiter der Abteilung Einsatz im PPSOH Claus Sp. weitergeleitet. Dies sei aber abgelehnt worden, oder wie Fehler es ausdrückt: Ihnen wurde gesagt, sie »könnten das im eigenen Saft lösen«. Konsequenz sei laut Fehler, dass in der Tatnacht vom 19. Februar weitere zeitgleiche Notrufe nicht weitergeleitet worden sondern »einfach verpufft« seien.

Auf die Frage, ob man bis zur Fertigstellung des neuen Präsidiums nicht eine provisorische Lösung hätte finden müssen gab Fehler zu, dass man dies rückblickend hätte tun müssen. Ob dies technisch und räumlich möglich gewesen sei, könne er aber nicht beantworten. Ebenso wie die Polizist*innen die vor ihm befragt wurden, sagte Fehler aus, auch er habe nichts von dem fehlenden Notrufüberlauf gewusst. In der Befragung durch die Abgeordneten ging es viel darum, wann Fehler an Vorgesetzte weitergegeben hat, dass es für den Notruf mehr Personal braucht. Fehler gab an, dies 2019 mehrfach angemerkt zu haben und deswegen 2019 ein »klärendes Gespräch« mit dem Polizeipräsidenten Ullmann gehabt habe, bei dem sie unterschiedliche Meinungen gehabt hätten. Über den genauen Inhalt wollte er nichts sagen, sondern merkte nur an, dass der Polizeipräsident »politisch denken muss«. Konkrete Nachfragen der Abgeordneten wehrte Fehler ab und die Abgeordneten fragten nicht näher nach. Fehler beschrieb sein Verhältnis zum damaligen Präsidenten des PPSOH nur mit einer etwas säuerlichen Bemerkung, dass dieser inzwischen zum Landespolizeipräsidenten aufgestiegen sei und er noch immer auf seiner alten Position.

Im Anschluss wurde Fehler noch befragt, wie er die Einsatznacht erlebte, nachdem er gegen 22.30 über die Schüsse in Hanau informiert wurde, zur Polizeistation fuhr und dort mit einer Beamtin eine Befehlsstelle aufbaute. Die Entscheiden des Polizsiten N., nicht auf der Station zu bleiben und den Notruf anzunehmen sondern zum Tatort zu fahren, verteidigte er.

Polizeipräsident Ullmann: »Es ging in meiner Zeit nie um die technische Ausgestaltung«

Als letzter Zeuge des Tages wurde Roland Ullmann befragt, der zum Tatzeitpunkt den 19.02.20 Präsident des PPSOH war und inzwischen Landespolizeipräsident ist (bis Sept. 2022). Er begann seine Ausführungen mit einer Darstellung der Aufgaben und Personenstärke der Polizeidirektionen und wie viele neue Stellen es in seinen Amtsjahren bei der Polizei in Hanau zusätzlich gegeben hätte. Den Antrag von 2019, der weitere Stellen gefordert habe, habe er erst nach der Tat in Hanau zu Gesicht bekommen. Inhaltlich habe er an der Ablehnung von weiteren Stellen jedoch auch nichts zu beanstanden, weitere Stellen für Hanau 1 seien nicht möglich gewesen, außerdem sei es dabei auch nicht explizit um den Notruf gegangen. Auch er begründete die Notrufsituation in Hanau mit den Verzögerungen beim Neubau des PPSOH. Eine Interimslösung sei ihm nicht in den Sinn gekommen, da die weitere Verzögerung des Neubaus nicht absehbar war.

Auch Ullmann verteidigte die Entscheidung des Polizisten N., nicht am Notruf zu bleiben sondern zum ersten Tatort zu fahren. Darauf angesprochen, dass der Polizist N. nicht wusste, dass es keinen Notrufüberlauf gab und wenn er dies gewusste hätte, nicht weiß ob er auch so gehandelt hätte, erklärte Ullmann, dies zum Tatzeitpunkt ebenfalls nicht gewusst zu haben.

Die Obfrau der SPD-Fraktion erklärte in der Befragung, sie halte es für nicht plausibel, dass Ullmann von dem fehlenden Notrufüberlauf nichts gewusst habe. Der erklärte erneut, dass ihm keine Defizite bekannt gewesen seien. Auf Medienberichte über eben jenes Problem beim Hanauer Notruf von 2002 angesprochen erklärte Ullmann, dass die vor seiner Amtszeit war.

So zog es sich durch die weitere Befragung: Er habe keine Kenntnis gehabt von Defiziten beim Notruf; Meldungen über die schlechte personelle Ausstattung hätten ihn nicht erreicht; Vom nicht vorhandenen Überlauf habe er nichts gewusst; Dass ein Techniker der hessischen Polizei hierzu aussagte, technisch hätte es auch für den Überlauf eine Möglichkeit gegeben, es wäre eine Frage der Finanzen und des Willens gewesen, habe er nicht gewusst; Beschwerden von Bürger*innen über den Notruf seien kurz vor seiner Zeit gewesen, weswegen er nichts davon gewusst habe… Immer wieder merkten einzelne Abgeordnete Skepsis an, dass Ullmann als Polizeipräsident nichts hiervon gewusst haben will und fragten nach. Ullmann blieb während seiner Befragung aber immer wieder bei den gleichen Punkten und wiederholte sich oftmals mit dem gleichen Wortlaut.

Nach knapp 11 Stunden endete die öffentliche Sitzung mit dem Ende der Befragung Ullmanns.