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15 Monate Untersuchungs­ausschuss im Hessischen Landtag

Dieser Text ist Teil einer Reihe von Einschätzungen der Initiative 19. Februar Hanau zum Untersuchungs­ausschuss im Hessischen Landtag. Die Artikelreihe versucht, einzelne Themenkomplexe aufzuarbeiten und einen Zwischenstand wiederzugeben - als Bausteine unserer eigenen Aufklärung.

Was hat der parlamentarische Untersuchungs­ausschuss im hessischen Landtag zum rassistischen Terroranschlag in Hanau am 19.2.2020 (UNA 20/2) aufklären können? Wo bleiben Lücken? Wo sind mehr Fragen entstanden als beantwortet worden? Zum dritten Jahrestag des rassistischen Anschlags liegen nahezu 15 Monate Untersuchungs­ausschuss hinter uns. Im folgenden Text wollen wir zu den einzelnen Fragekomplexen mit einer Zwischenauswertung beginnen. Der Untersuchungs­ausschuss wird noch bis in den Sommer 2023 hinein tagen. Der folgende Text ist daher eher ein Einblick in den aktuellen Stand als eine Bilanz.

Die Angehörigen und Überlebenden des 19. Februar 2020 haben den Untersuchungs­ausschuss zu Hanau erkämpft. Mit ihrer Beharrlichkeit haben sie SPD, FDP und Linke überzeugt und letztlich sogar die Regierungskoalition aus CDU und Grünen gezwungen, dem Einreichungsantrag im Juli 2021 zuzustimmen.

Erstmalig haben zum Anfang eines Untersuchungs­ausschusses im UNA 20/2 insgesamt elf Angehörige und Überlebende in vier Sitzungen ihr Zeugnis abgelegt. Sie haben ihre schrecklichen Erfahrungen – insbesondere in der Tatnacht und den Tagen danach – vorgetragen und zudem ein erstes, selbst in Auftrag gegebenes Gutachten von Forensic Architecture zum verschlossenen Notausgang vorgestellt. Informationen, die eigentlich die Polizei und Behörden hätten ermitteln müssen, sowie die gesammelten offenen Fragen, wurden von den Angehörigen als Auftakt eingebracht.

Von Anfang an begriffen wir den Untersuchungs­ausschuss als einen weiteren Raum, in dem wir eine kritische Aufarbeitung einfordern: u.a. zu den Waffenerlaubnissen für den Täter, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach, zur Rolle des Vaters des Täters sowie zu den rechtsradikalen Polizisten innerhalb des in Hanau eingesetzten SEKs.

Ab Sommer 2022 haben wir zudem mit der Ausstellung »Three Doors« von Forensic Architecture/Forensis den parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss gleichermaßen begleitet und konfrontiert. Die Ausstellung wurde zum Ort der zivilgesellschaftlichen Aufklärung, und die detaillierten Rekonstruktionen zum Notausgang sowie zum Täterhaus fordern den Untersuchungs­ausschuss heraus. »Die Wahrheit liegt in diesem Raum« formulierten Angehörige zur Ausstellung, die zunächst in Frankfurt, dann in Berlin und zum dritten Jahrestag in Hanau gezeigt wird. Ein zentrales Element der Präsentationen sind auch die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden im Untersuchungs­ausschuss, die für die Besucher:innen in Video-Dokumentationen aufbereitet wurden. Während sich der Öffentlichkeit, die den parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss kritisch beobachtet, im Laufe des letzten Jahres immer wieder die Frage stellte, wie weit der hessischen Landesregierung wirklich an der Aufarbeitung der Fehler und Versäumnisse gelegen ist, wurden die Untersuchungen und die Ausstellung von Forensic Architecture zum Schrittmacher für lückenlose Aufklärung.

Die Fragenkomplexe zur Kette des Versagens, deren lückenlose Aufklärung noch immer gefordert wird:

Vor dem Untersuchungs­ausschuss hatten wir 10 Fragenkomplexe aufgelistet, die Aufklärung erfordern. Im Folgenden versuchen wir zu den einzelnen Fragenkomplexen vorläufige Eindrücke zu geben. Ein Versuch, auch für uns selbst einzuordnen, was bislang aufgeklärt wurde und wo weiterhin große Lücken bleiben.

1. Was wussten die Behörden über den Täter und dessen Vater, und wie wurde mit diesen Informationen umgegangen?

Der bisherige UNA hat gezeigt, dass der spätere Täter den Behörden durchaus mehrfach auffiel oder zumindest auf sich aufmerksam machte, diese Informationen aber aufgrund von Datenschutzbestimmungen nach dem Ablauf einer Frist gelöscht oder scheinbar schlicht nicht weitergegeben wurden.

2002 fiel der spätere Täter erstmals polizeilich auf, da er eine damalige Kommilitonin stalkte und Wahnvorstellungen über geheimdienstliche Aktivitäten ihrer Eltern entwickelte. Daraufhin wurde er für kurze Zeit in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen, allerdings von seinem Vater nach kurzer Zeit heraus geholt.

2004 machte er mit einer Anzeige bei der Polizei auf sich aufmerksam, in der er bereits wahnhafte Verschwörungsideologien von sich gab. Diese Anzeige leitete die Polizei auch an das zuständige Gesundheitsamt weiter, der Eintrag wurde allerdings nach dem Ablaufen einer Frist aus Datenschutzgründen wieder gelöscht.

Ein weiteres Mal fiel der spätere Täter im März 2018 auf, als eine Sexarbeiterin, die mit dem Täter in einer Ferienwohnung war, die Polizei alarmierte, weil sie »Todesangst« vor vor ihm hatte und er Waffen dabei gehabt haben soll. Einer der damals alarmierten Polizisten stellte die Situation jedoch weniger dramatisch dar und will von Todesangst und Waffen nichts gemerkt haben. Nach der Befragung am 16. Mai 2022 im UNA Hanau blieb offen, inwiefern die Polizei den Notruf damals ernst genommen und wie gründlich sie die Wohnung auf Waffen durchsucht hat.

Zuletzt machte der spätere Täter im November 2019 mit zwei fast gleichlautenden Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft Hanau und der Bundesanwaltschaft auf sich aufmerksam. Beide enthielten erhebliche Verschwörungsideologien und Wahnvorstellungen über eine Verfolgung durch Geheimdienste und waren zu großen Teilen gleichlautend mit dem späteren Manifest des Täters, das er kurz vor der Tat veröffentlichte. Zudem berichtete der Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig, Jürgen Fehler, in seiner Aussage, dass der Name des Täters bei einer Besprechung am Morgen nach der Tatnacht den Menschen im Rathaus ein Begriff gewesen sei. Die Familie des Täters sei bei Mitarbeiter*innen der Stadt als »Querulantenfamilie« bekannt gewesen.

Die Rolle des Vaters des Täters in der Tatnacht ist weiterhin unklar. Fest steht, dass er sich zum Zeitpunkt, als sein Sohn dessen Mutter und seine Ehefrau und anschließend sich selbst tötete, mit diesen im Haus befand. Doch wie genau seine Rolle bei der Tat zu bewerten ist und was Behörden im Einzelnen über den Vater vor der Tat wussten blieb offen, der UNA lieferte hierzu in öffentlicher Sitzung keine Erkenntnisse. Denn der UNA beschloss zu Beginn, alles, was den Vater des Täters betrifft, nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu behandeln, um dessen Persönlichkeitsrechte zu schützen. Dies betrifft nicht nur die Frage nach der psychischen Verfasstheit des Vaters, sondern schlicht alles zu ihm. Diese äußerst restriktive Auslegung des UNAs verwundert. Schließlich ist es auch bei anderen UNAs üblich, z.B. Personen aus der extremen Rechten in öffentlicher Sitzung zu befragen, ohne so umfassend auf deren Persönlichkeitsrechte zu achten. Warum für den Vater des Täters hier eine so umfassende Ausnahme gemacht wird, bleibt unverständlich.

Zumal der Vater des Täters sich nicht scheut, sich deutlich zu dem Weltbild und der Ideologie seines Sohnes zu bekennen, auch öffentlich. So stellte er diverse Anzeigen und Anträge, in denen er die Waffen zurückfordert, die Webseite mit dem rassistischen Manifest wieder online stellen will. Und er beleidigt und bedroht Überlebende und Familien der Opfer. Auch Jugendliche aus dem nahegelegenen Jugendzentrum und Kinder der Kesselstädter Grundschule haben immer wieder beängstigende Begegnungen mit ihm erlebt. Er ist eine tickende Zeitbombe, bislang ohne größere Konsequenzen.

2. Gab es Versäumnisse bei der Ausstellung der Waffenerlaubnisse für den Täter? Hätten rechtliche Möglichkeiten bestanden, die Erteilung zu versagen?

Zu dieser Frage konnte der Ausschuss bislang nur minimale Informationen sammeln. Zur Frage steht, ob der Täter von Hanau überhaupt legal Waffen besitzen durfte. Zum einen wegen der Zwangseinweisung in einer psychiatrische Klinik wegen wahnhaften Vorstellungen 2002 und zum anderen, wegen den Strafanzeigen von 2004 und 2019, in denen er von einer Verfolgung durch Geheimdienste fantasierte und andere Wahnvorstellungen von sich gab. Im Jahr 2018 hatte der Attentäter von Hanau zudem einer Sexarbeiterin in einer Ferienwohnung in Bayern Todesangst bereitet. Damals soll die dortige Polizei ihren Hinweisen (u.a. auf Waffen) nicht richtig nachgegangen sein.

Zu Frage, ob der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik 2002 nicht dazu hätte führen müssen, dass dem Täter keine Waffenerlaubnis erteilt wird, gaben Zeug*innen im UNA an, wenn dem Landkreis Informationen über die kurzzeitige psychiatrische Einweisung vorgelegen hätten, so seien diese aufgrund von Datenschutzbestimmungen nach zehn Jahren gelöscht worden.

Anders sieht es aus mit den Anzeigen des Täters, aus denen eindeutig psychische Wahnvorstellungen hervorgehen. Die Kriminologin Bannenberg benannte im UNA Schreiben an Behörden mit wahnhaften Inhalten als typisches Warnzeichen für eine geplante Gewalttat. Die Anzeige des Täters von 2004, die er stellte, leitete die Polizei an die zuständige Gesundheitsbehörde im Main-Kinzig-Kreis weiter. Ob diese Information auf die spätere Entscheidung der Waffenbehörde Einfluss hätte nehmen können, dem Täter eine Waffenbesitzerlaubnis zu erteilen, lässt sich durch den bisherigen UNA jedoch nicht sagen: Alle Mitarbeitenden des Main-Kinzig-Kreises und dessen Waffenbehörde, die dazu befragt werden sollten, verweigerten die Aussage. Sie begründeten dies mit einem laufenden Disziplinarverfahren wegen der erteilten Waffenerlaubnis und ihrem deswegen bestehendem Aussageverweigerungsrecht. Ihre Befragung soll in diesem Jahr noch nachgeholt werden. Hinzu kommt, dass der Main-Kinzig-Kreis offenbar nicht alle Akten an den UNA weitergegeben hat, sondern sie scheinbar sehr restriktiv einstufte, wonach eine Weitergabe nicht möglich ist. Ein Abgeordneter im UNA kommentierte dies mit dem Satz: »Der Kreis stuft Akten in einer Weise ein, wie wir sie noch nicht kannten.«

Im Gegensatz zu der Anzeige aus 2004, die er bei der Polizei stellte, schickte der spätere Täter seine Anzeigen im November 2019 an den Generalbundesanwalt und die Staatsanwaltschaft Hanau. Diese leiteten im Gegensatz zur Polizei 2004 diese nicht an das zuständige Waffen-Amt weiter. Die Landesregierung sieht darin kein Fehlverhalten: Da die Anzeigen zwar Wahnvorstellungen, aber keine Androhung von Gewalttaten enthalten haben, hätte für die Staatsanwaltschaften weder die Pflicht noch die rechtliche Möglichkeit bestanden, diese weiter zu melden. Allerdings ist diese Auslegung, dass es sich dabei um keine Gewaltandrohung gehandelt habe, fraglich, denn in den Anzeigen befinden sich große Teile seines späteren »Manifests«. Überraschend ist, dass der UNA dem Sachverhalt scheinbar gar nicht nachzugehen plant: Bisher wurde weder der verantwortliche Mitarbeiter des Generalbundesanwalts, noch von der Staatsanwaltschaft Hanau hierzu als Zeugen geladen.

3. Warum war die Notrufnummer 110 am Tatabend für Vili Viorel Păun und andere nicht erreichbar? Wer in den Behörden und in der Politik wusste von der Notrufproblematik in Hanau?

Dank der Recherchen der Familie Păun, von Journalist:innen, Rechtsanwält:innen und Unterstützer:innen sowie durch entsprechende Befragungen im parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss in Wiesbaden wissen wir heute, was bezüglich der personellen Unterbesetzung sowie der technischen Unterausstattung von der hessischen Polizei und dem Innenministerium mit allen Mitteln verheimlicht und vertuscht werden sollte:

  • Der Notruf war – von den ersten 16 Sekunden abgesehen – nur mit einer Person besetzt. Eine weitere Polizeibeamtin, wurde schlicht »vergessen«.
  • Es gab beim Hanauer Notruf keine Überlauf- bzw. keine Weiterleitungsfunktion für nicht angenommene Anrufe. Alle nicht angenommenen Notrufe – auch die von Vili Viorel Păun, der den Täter verfolgte – liefen ins Leere.
  • Die Aufnahmefunktionen waren ebenfalls gestört
  • Offensichtlich gab es nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 keinerlei kritische Aufarbeitung zum Notrufversagen innerhalb der zuständigen Polizeibehörden und mit den beteiligten Polizist:innen in Hanau.
  • Im UNA wurde zudem bekannt, dass das Landespolizeipräsidium versucht hatte, auf das Polizei-interne Ermittlungs­verfahren zum Notrufversagen Einfluss zu nehmen.

Eine Chronologie zum Notruf-Desaster in Hanau und den systematischen Vertuschungsversuchen findet sich auf dieser Website.

4. Welche Verantwortung tragen Hessische Behörden dafür, dass der Notausgang am zweiten Tatort verschlossen war? Gab es einen Informanten der Sicherheitsbehörden in der Arena Bar?

Anfang September 2022 haben zwei Polizei-Zeugen im Untersuchungs­ausschuss bekräftigt, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war. Said Etris Hashemi sowie Piter Minnemann, Überlebende aus der Arena-Bar, haben ausgesagt, dass sie davon ausgehen mussten, dass die Tür verschlossen war. Weitere Zeugen aus Kesselstadt sagen, dass die Tür in aller Regel nicht zu öffnen war. Belege aus der Videoauswertung der Tatnacht machen deutlich, dass die Tür verschlossen gewesen sein musste. Im Untersuchungs­ausschuss waren sich schlussendlich alle einig: der Notausgang war in der Tatnacht zu.

Die Frage, ob die Betroffenen es zeitlich hätten schaffen können, aus dem Notausgang zu fliehen, bearbeitet Forensic Architecture in einer Videorekonstruktion, die sie bereits im Dezember 2021 veröffentlicht hatten. Am 14.10.2022 war dann mit Robert Trafford schließlich einer der Forensiker im Ausschuss als Sachverständiger geladen, um die Untersuchung zum Notausgang den Parlamentarier:innen vorzustellen. Die Betroffenen hätten es demnach zeitlich schaffen können, den Notausgang zu erreichen.

Zudem war als Sachverständige eine Professorin für Psychologie und Führungslehre, Dr. Birgitta Sticher, im Ausschuss aufgetreten. Sie lehrt und forscht zu menschlichem Verhalten in Gefahren- und Bedrohungslagen und legte dar, dass Menschen in Extremsituation nicht einfach panisch reagieren, sondern dass blitzschnelle rationale und soziale Abwägungen im Gehirn ablaufen. Es wäre also denkbar, dass die Betroffenen gemeinsam zum Notausgang gerannt wären, wenn sie sich dadurch hätten Schutz versprechen können.

Alle Argumente der Staatsanwaltschaft für eine Einstellung des Verfahrens bezüglich des verschlossenen Notausgangs wurden also in den Sitzungen des Untersuchungs­ausschusses widerlegt. Der verschlossene Notausgang von Hanau wird dennoch absehbar ohne juristische Konsequenzen bleiben. Immer wieder haben regelmäßige Besucher der Arena Bar darauf hingewiesen, dass es ein offenes Geheimnis war, dass der Betreiber der Arena Bar von der Polizei aufgefordert worden sei, den Notausgang geschlossen zu halten. Hier genauer zu ermitteln, wäre die Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen.

In einer ausführlichen Zusammenfassung haben wir am 25. Januar 2023 über den verschlossenen Notausgang geschrieben. Dieser Text findet sich hier.

5. Was haben Polizeikräfte an den Tatorten getan, um alle Opfer möglichst schnell zu finden und sie schnellstmöglich ärztlich zu versorgen?

Vaska Zlateva, die Cousine von Kaloyan Velkov, dem ersten Opfer am Heumarkt, sagte als erste Zeugin im UNA aus. Sie thematisierte, dass von den ersten Schüssen bis zum Auffinden der Leiche von Kaloyan Velkov über 25 Minuten vergangen sind. Sie stellte die Frage, warum es so lange gedauert und was das zu bedeuten hat. In der Befragung durch die Abgeordneten machte sie deutlich, dass sie in der Nacht und auch den nächsten Tagen weder über den Todeszeitpunkt, noch über den Ablauf in der La Votre Bar, in der Kaloyan Velkov ermordet wurde, und auch nicht über die Obduktion sowie die Möglichkeiten für einen rechtlichen Beistand informiert wurde.

Serpil Unvar hat in der vierten Sitzung des Untersuchungs­ausschusses erneut die Frage gestellt, wie lange ihr Sohn Ferhat Unvar noch gelebt hat und was mit ihm in den letzten Minuten seines Lebens passiert ist, wie es ihm ging. Ferhat Unvar hatte über einen langen Zeitraum hinter der Theke im Kiosk gelegen, auch nach Eintreffen von Polizei und Rettungskräften, ohne dass jemand sich ihm zugewandt hat, wie Aufnahmen einer Videokamera zeigen. Die Staatsanwaltschaft Hanau stellte im November 2021 fest, dass es keinen Grund gegeben habe, warum die Polizisten, die in dem Kiosk waren, zumindest nachsehen sollten, ob Ferhat noch lebte. Die Rechtsmedizin gehe davon aus, dass Ferhat »binnen etwa einer Minute nach der Schussabgabe, also um 22:01 seinen Verletzungen erlegen« sei. Daher gäbe es keinen Grund weiter zu ermitteln, warum niemand sich ihm zugewandt habe. Er wäre sowieso gestorben.

Inzwischen lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Kaloyan Velkov und Ferhat Unvar tödliche Verletzungen erlitten haben und auch bei schnellstmöglicher Versorgung nicht hätten gerettet werden können. Und doch stellt sich die menschliche Frage nach dem Zuwenden auch zu einer sterbenden Person. »Niemand war bei ihm, niemand hat sich ihm zugewandt. Keiner will allein sein beim Sterben. Und die Polizisten, die da waren, konnten nicht wissen, dass Ferhat wirklich tot war, wenn sie sich ihm nicht zugewandt haben. Es ist eine Frage der Würde.«, so Serpil Unvar.

Keine:r der Verantwortlichen hat Worte des Bedauerns darüber geäußert und erklärt, warum es Überforderungen gab und erklärt, wie es dazu kam, dass niemand sich den Sterbenden zugewendet hat. Hätte jemand den betroffenen Familien erklärt, wie die letzten Minuten im Leben der beiden verlaufen sind, dann wären zumindest nicht alle offenen Fragen mit den schrecklichsten Vorstellungen und Bildern gefüllt worden.

Auch im Umgang mit den Überlebenden bleiben viele Fragen unaufgeklärt – und damit auch ohne Konsequenzen. Etris Hashemi hatte gerade eine lebensgefährliche Schussverletzung erlitten, als er mehrfach nach seinem Ausweis gefragt wurde, während er auf Erstversorgung seiner Verletzungen warten musste. Ein weiteres Puzzlestück in einem Bild der Tatnacht, das vor allem davon geprägt ist, dass die Opfer des rassistischen Terroranschlags nicht wie Opfer, sondern wie Tatverdächtige behandelt wurden. Die Frage nach dem Ausweis wiegt besonders schwer, weil Hanau-Kesselstadt und insbesondere der Tatort Arena Bar, an dem Etris Hashemi verletzt wurde, einer der Orte in Hanau ist, an dem die Dichte rassistischer Polizeikontrollen (sogenanntes »racial profiling«) besonders hoch ist.

6. Welche Einsatzstrukturen wurden am Tatabend von welchen Polizeistrukturen eingerichtet? Wann genau hat der Generalbundesanwalt das Verfahren übernommen?

In dieser und auch der nachfolgenden Frage nach dem Zeitpunkt, ab wann der rassistische Tathintergrund in den eingesetzten Polizeistrukturen bekannt wurde, finden wir nach wie vor die größten blinden Flecken. Weder in den umfangreichen Akten, noch im Untersuchungs­ausschuss ergibt sich ein Bild über die Einsatzstrukturen in der Tatnacht. Wer trug wann die Verantwortung für welche Entscheidungen? Es gibt weder ein Mapping über Zuständigkeiten noch eine Zeitleiste, wer ab wann die Verantwortung übernahm.

Im Verlauf des Untersuchungs­ausschusses lässt sich vor allem aus dem, was nicht gesagt wird, und aus den Zwischenzeilen die Systematik der dahinter liegenden Verschleierung von Verantwortung erkennen. Zwischen den unterschiedlichen Behörden wird die Verantwortung hin und her geschoben. Immer wieder berufen sich Zeug:innen darauf, für gewisse Dinge nicht verantwortlich gewesen zu sein, da zu dem Zeitpunkt eine andere Behörde zuständig war.

Manchmal sagen sie auch aus – wie die mittlerweile pensionierte Hanauer Staatsanwältin Türmer, die die Obduktionen anordnete, als die Verantwortung längst an die Generalbundesanwaltschaft übergegangen war – gar nicht gewusst zu haben, dass die Verantwortung für bestimmte Entscheidungen nicht bei ihnen gelegen habe. Oder wahlweise nicht gewusst zu haben, dass sie dafür verantwortlich gewesen seien.

7. Wann genau wurde in den Polizeistrukturen bekannt, dass es sich um einen rassistisch motivierten Anschlag handelt? Bis wann wurde von einem anderen Tathintergrund ausgegangen und wie wirkte sich das aus?

Durch verschiedene Zeug:innen (u. a. Staatsanwältin a. D. Türmer und den Einsatzleiter der Hanauer Polizei Jürgen Fehler) wird klar, dass zumindest kurz vor der Stürmung des Täterhauses deutlich wurde, dass es sich um einen rassistischen Anschlag handelt. Wann jedoch der Tathintergrund an die sich im Einsatz befindlichen Einsatzkräfte kommuniziert wurde, bleibt bislang im Dunkeln. Antworten lassen sich eher aus dem, was nicht gesagt und dokumentiert wird, erahnen, als aus dem, was hier wirklich untersucht wurde.

Durch die einzelnen verantwortlichen Einsatzleiter wird jeweils behauptet, der Tathintergrund spiele beim Umgang mit solchen Taten keine Rolle, die Abläufe seien immer gleich.

Im Mai 2020 behauptet der hessischen Innenminister Beuth, die Polizei sei durch Rocker in der Arbeit behindert worden. In seiner ersten Vernehmung am 01.04.2022 nannte Dirk Fornoff, der Einsatzleiter des Polizeipräsidiums Frankfurt, zu Beginn des Einsatzes sei »Hells Angels« oder Rocker als Täter noch die »Haupthypothese« zur Tat gewesen. Erst ab 2:00/2:30 hätte es »erste Tendenzen« auf eine rechte Motivation gegeben. Dass die eingesetzen Polizeikräfte sich von der Überwachung des Täterhauses ablenken ließen und auf die Kontrolle von ihnen dem Rockermilieu zugeordete Personen konzentrierten, wirft jedenfalls die Frage auf, welchen Einfluss der vermutete Tathintergrund auf den Einsatz vor Ort hatte und darauf, dass die Polizei sich zwischenzeitlich vom Täterhaus entfernte . Offensichtlich war lange nicht klar, oder die Einsatzleitung wollte es nicht wahrhaben, dass es sich um einen rassistischen Anschlag handelte. Und das, obwohl das Tatfahrzeug, der Name des Halters und die Halteranschrift bereits bekannt waren – bereits wenige Minuten nach der Tat war das Nummernschild von einem Zeugen weiter gegeben worden – und der Täter ein rassistisches Manifest unter seinem Namen online hochgeladen hatte.

Zudem spricht der Umgang mit den Überlebenden und den Angehörigen der Ermordeten eine eigene Sprache. Von ihnen gibt es unzählige Schilderungen, wie sie in der Tatnacht eher wie Tatverdächtige und nicht wie Opfer rassistischen Terrors behandelt wurden.

Filip Goman, der Vater der ermordeten Mercedes Kierpacz, berichtete bereits Monate vor Beginn des Untersuchungs­ausschusses öffentlich darüber, wie er mit Mitgliedern seiner Familie in der Tatnacht im Auto in der Nähe des Kiosks wartete, um Mercedes noch einmal sehen zu können. Sie wurden von einer Sondereinheit der Polizei umstellt und mit Waffen im Anschlag zum Aussteigen aufgefordert. Zu diesem Vorfall wird der zuständige Polizeichef Jürgen Fehler später im Untersuchungs­ausschuss sagen: »Das war eben eine robuste Kontrolle.« Auch hier: nie ein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung für diese erneuten schockierenden Minuten kurz nach dem Mord an Mercedes Kierpacz.

Es wurde an keiner Stelle zugegeben, dass offenbar über eine lange Zeit der rassistische Tathintergrund den sich im Einsatz befindlichen Kräften nicht bekannt gegeben wurde. Gleichzeitig scheint immer wieder zwischen den Zeilen die Haltung in der Polizei durch. Bei der Befragung des Hanauer Einsatzleiters Fehler am 21.11.2022 äußerte sich dieser zu der Situation, dass ein Überlebender allein zu Fuß vom Tatort zur mehrere Kilometer entfernten Polizeistation geschickt wurde. Er gab an, dass er sich schon vorstellen könne, dass die Kollegen eventuell mit dem Betroffenen schon vorher »ihre Erfahrungen gemacht« hätten und sich dachten »der kann auch laufen«.

8. Welche Versäumnisse gab es beim Polizeieinsatz am Täterhaus, warum wurde erst so spät gestürmt? Welche Rolle spielten die 13 SEK-Beamten, die später in rassistischen Chats aufgefallen sind?

Zu den Abläufen rund um das Täterhaus hat der Untersuchungs­ausschuss bislang wenig bis nichts aufklären können.

Forensic Architecture/Forensis hat jedoch in einer 30-minütigen Video-Rekonstruktion die Abläufe rund um das Täterhaus detailliert nachgezeichnet. Dieses Video beinhaltet nicht nur weitere Hinweise darauf, dass der Vater des Täters bezüglich seiner Rolle in der Tatnacht die Unwahrheit gesagt hat. Es belegt zudem, dass die eingesetzten Polizeieinheiten – zunächst Zivilstreifen und danach das SEK – das vermutliche Täterhaus über mindestens zwei Stunden nicht ausreichend überwacht und nicht umstellt und entsprechend erst später gestürmt hat. Der Täter hätte also problemlos aus dem Haus fliehen und weiter morden können. Wesentliches Element der Untersuchung ist die Auswertung der Kamera-Aufnahmen eines Polizeihubschraubers. Dieser kreist bereits 30 Minuten nach den Morden für zwei Stunden über Hanau und dem Stadtteil Kesselstadt, ohne von den Polizeikräften am Boden über die Adresse des Täters informiert zu werden. Der Helikopter bleibt insofern im Blindflug, die beiden Piloten bringen per Funk ihre Frustration darüber zum Ausdruck und können ebenfalls nicht zur nötigen Überwachung des Täterhauses beitragen.

In der Sitzung am 01.04.2022 behauptet der Einsatzleiter aus dem Polizeipräsidium Frankfurt Fornoff, die Polizei habe das Haus des Täters bereits gesichert, als er die Einsatzleitung übernommen habe. Als er in einer späteren Sitzung am 21.11.2022 auf die gegenteiligen Erkenntnisse der Video-Rekonstruktion angesprochen wurde, behauptete er weiterhin, dass das Haus »umstellt« gewesen sei, räumte jedoch ein, dass es »nicht lückenlos abgesperrt« wurde.

Als die Video-Rekonstruktion im Sommer 2022 veröffentlicht wird, ist die Aufregung groß: denn dem Untersuchungs­ausschuss waren die Videoaufnahmen durch die Generalbundesanwaltschaft bis dato nicht zur Verfügung gestellt worden. Und mit großer Eile wird durch das hessische Innenministerium das Hubschrauber-Video nachträglich als Verschlusssache eingestuft. Wann und durch wen dies geschehen ist, ist bis heute nicht bekannt und eine der offenen Fragen, die dem Untersuchungs­ausschuss zu klären bleiben. Jedenfalls führt diese nachträgliche Einstufung als Verschlusssache bislang dazu, dass die Verantwortlichen aus SEK und LKA nicht gehört wurden. Die Hubschrauber-Piloten können ebenfalls nicht angehört werden, denn gegen sie wurden Disziplinarmaßnahmen eingeleitet. Wahrscheinlich steckte genau diese Absicht dahinter: damit die Piloten nicht aussagen müssen.

9. Welche Versäumnisse hat es bei dem Umgang mit Überlebenden und den Familien der Ermordeten am Tatabend und danach sowie bei der Obduktion der Leichname gegeben?

Die Chance, die Aussagen der Überlebenden und Angehörigen des rassistischen Terroranschlags in Hanau am 19. Februar 2020 zu Beginn der öffentlichen Sitzungen des Untersuchungs­ausschusses Hanau des hessischen Landtages als Orientierungspunkt des politischen Handelns zu nehmen, wurde bisher nicht genutzt. Dabei haben alle in ihren Aussagen auf die gravierenden Mängel der Erst- und Folgeversorgung hingewiesen. Daraus könnten Schritte zum politischen Handeln und zur Verbesserung der Versorgung abgeleitet werden. Die Eindrücke aus dem Untersuchungs­ausschuss deuten aber eher darauf hin, dass weiterhin die Legende einer »exzellenten Polizeiarbeit« aufrechterhalten werden soll – vor allem seitens der Landesregierung. Politiker:innen, die die Impulse der Betroffenen ernst nehmen und eine wirkliche Aufarbeitung und schlussendlich Konsequenzen wollen, bleiben in der Minderheit.

In einer ausführlichen Zusammenfassung haben wir am 11. Januar 2023 über die Themen Erstversorgung und weitere Begleitung der Betroffenen und Hinterbliebenen im UNA Hanau geschrieben. Dieser Text findet sich hier..

10. Gibt es Zusammenhänge zwischen den Taten am 19.Februar 2020 und dem polizeibekannten Vorfall im März 2017, bei dem in Kesselstadt Jugendliche von einem Mann in militärischer Ausrüstung bedroht wurden?

Hierbei geht es um einen Vorfall, der sich im März 2017 ereignete: Damals berichteten Jugendliche, die sich auf dem Gelände des Jugendzentrums in Hanau-Kesselstadt aufhielten, von einem Mann in militärischer Kleidung, der sich im Gebüsch versteckte und die Jugendlichen mit einer Schusswaffe bedrohte. Es steht die Vermutung im Raum, dass es sich dabei um den späteren Täter des 19. Februar 2020 handelte, der in unmittelbarer Nähe zum JUZ wohnte. In dieselbe Richtung rannte der Mann in Militärkleidung 2017. Die Jugendlichen berichteten zudem, dass sie von der Polizei, die sie alarmierten, nicht ernst genommen wurden. Unter dem Eindruck, dass ca. 30min vorher in einem anderen Hanauer Stadtteil ein sehr ähnlicher Notruf einging, ist dies besonders skandalös.

Ob es sich dabei um den späteren Täter handelte, klärte der Ausschuss nicht abschließend auf. Es wurden A. K. hierzu angehört, der in der Situation mit dabei war und zugleich Bruder des am 19. Februar 2020 getöteten Hamza Kurtović ist, sowie ein anderer Zeuge aus der Gruppe, die bedroht wurde und der die Polizei anrief. Außerdem wurde ein BKA-Beamter vernommen, der nach dem 19. Februar 2020 hierzu ermittelte. Letzterer kam zu dem Ergebnis, dass er es für unwahrscheinlich halte, dass es sich dabei um den späteren Attentäter handelte: Denn er hätte 2017 am Tag davor und danach mit seiner Kreditkarte in München eingekauft, wo er damals lebte. Laut einem Arbeitskollegen habe der spätere Attentäter üblicherweise lang gearbeitet und sei erst spät zur Arbeit gekommen. Aufgrund dieser Umstände schloss der BKA-Beamte, dass es sich bei dem Mann vom Bedrohungsvorfall am JUZ-Kesselstadt 2017 wahrscheinlich nicht um den späteren Attentäter gehandelt habe, da er es nicht rechtzeitig zurück nach München geschafft hätte. Allerdings ließ die Befragung des BKA-Beamten in Lücken der Ermittlungen blicken. So stützt sich die Annahme, der Täter sei üblicherweise lang im Büro geblieben, auf die Aussage eines einzigen ehemaligen Kollegen, der vernommen wurde, und birgt insgesamt wenig Aussagekraft für den konkreten Tag. Trotz der Kreditkartenrechnungen am Tag davor und danach hätte der Täter theoretisch Zeit gehabt, nach Hanau und zurück zu fahren. Ob er dies tat ist unklar.

Arbeitsweise und Stimmung im Untersuchungs­ausschuss

Dass viele der Fragen zum Anschlag in Hanau allenfalls ansatzweise oder überhaupt nicht geklärt sind, liegt nicht nur an den oftmals unzureichenden Befragungen durch die Abgeordneten im Ausschuss oder fehlenden Informationen, sondern hat auch strukturelle Gründe in der Art, wie parlamentarische Untersuchungsausschüsse (UNAs) arbeiten. So ist es bei UNAs wie bei Gerichtsprozessen üblich, dass Personen in Leitungsfunktionen zusammenfassend über einen Themenkomplex berichten. Im Hanau UNA sagte beispielsweise ein leitender BKA-Ermittler zu den Ermittlungen seiner Behörde aus, stellvertretend für seine Mitarbeiter:innen. Dies führt jedoch dazu, dass solche Personen in Leitungsfunktionen zu Detailfragen oft keine Antwort geben können oder zumindest sagen, dies nicht zu können, weil sie mit den Details nicht befasst gewesen waren. Wollte ein UNA diese Detailfragen aber restlos klären, müsste er eine ganze Reihe von Zeug:innen laden und hierzu vernehmen. Dies passt in der Regel aber nicht in den Zeitplan der UNAs. So müsste der Hanau UNA, um die Frage zu klären, wer wann wie entschied, dass der Notruf so und nicht anders aufgestellt war, vermutlich eine Reihe von Vertreter:innen der Polizei und des Innenministeriums anhören. Dies würde jedoch eine Vielzahl mehr an Terminen bedeuten und scheint offenbar nicht möglich oder ist nicht gewollt.

Ebenso wie bei Gericht gilt vor UNAs, dass Zeug:innen der Wahrheit verpflichtet sind und keine falschen Aussagen machen dürfen. In der Praxis verweisen Zeug:innen jedoch oft auf Erinnerungslücken, wenn sie zu bestimmten Themen befragt werden. Da die Ereignisse, zu denen gefragt wird, mitunter schon einige Jahre her sind, scheint das in einigen Fällen plausibel, in anderen jedoch weniger. Im Gegensatz zu den meisten Gerichtsprozessen bohren die Abgeordneten im Hanau UNA an diesen Stellen jedoch nur selten nach. Und selbst wenn die Abgeordneten mal überzeugt sein sollten, dass Zeug:innen lügen, indem sie behaupten, sie könnten sich nicht an Dinge erinnern, muss auch die zuständige Staatsanwaltschaft überzeugt sein, die in bisherigen Fällen dieser Art, etwa beim hessischen NSU-Untersuchungs­ausschuss, kein großes Interesse an der Verfolgung von Falschaussagen zeigte. Es ist daher in UNAs eine beliebte Taktik von Zeug:innen, sich bei unangenehmen Fragen auf Erinnerungslücken zu berufen, die nicht leicht zu widerlegen sind.

Durch ihre Mehrheit im Landtag besitzen die Regierungsfraktionen von CDU und GRÜNEN, die den Ausschuss ursprünglich nicht einsetzen wollten, auch im UNA Hanau eine Mehrheit und können so dessen Arbeit maßgeblich beeinflussen. Zwar haben auch alle anderen Fraktionen das Recht, Zeug:innen zu laden und zu befragen. Da das Fragerecht der Reihe nach entsprechend der Größe der Fraktionen zugeteilt wird, hat die CDU jeweils die Möglichkeit, Zeug:innen als erstes zu befragen. Dies tut die Fraktion und insbesondere ihr Obmann recht suggestiv, wobei sie Zeug:innen mitunter genehme Antworten auf dem Silbertablett liefert. Zudem können die Regierungsfraktionen mit ihrer Mehrheit bei Abstimmungen, etwa zur Öffentlichkeit oder Nicht-Öffentlichkeit von Themen, diese nach nach ihren Interessen entscheiden.

Neben diesen strukturellen Problemen von UNAs, vor denen auch der Hanau UNA steht, fällt er mit einigen Besonderheiten auf – leider vor allem mit unglaublichen Respektlosigkeiten. Es begann schon in den ersten Sitzungen: Im Gegensatz zu anderen Untersuchungsausschüssen wurde beim UNA Hanau erreicht, dass Angehörige und Überlebende zuerst aussagen konnten. Doch während vor ihnen Menschen aussagten und von traumatischen Erinnerungen erzählten, wie sie erfuhren, ihr Kinder verloren zu haben oder mitansehen mussten, wie Freund:innen und Verwandte vor ihren Augen starben, fanden es einige Abgeordnete von CDU und FDP angemessen, dabei Zeitung zu lesen, Mails zu beantworten oder den Live-Stream der CDU-Vorsitzendenwahl zu schauen. Wie viel Missachtung kann man Menschen eigentlich entgegenbringen?

Der Höhepunkt der Respektlosigkeit ereignete sich bei einer Sitzung im November 2022: Wegen eines Fehlalarms im Landtag wurde die Sitzung des UNA Hanau unterbrochen und alle Abgeordneten und Zuschauer:innen sowie die Presse mussten das Gebäude verlassen. Vor dem Landtagsgebäude machte ein Mitarbeiter des Innenministeriums einen »Witz« über einen Notausgang im Landtagsgebäude und dass dieser nicht auf Anweisung seiner Behörde geschlossen sei – in Anspielung auf den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar. Die um ihn herumstehenden Abgeordneten der CDU Fraktion lachten hierüber. Das Innenministerium leugnete den Vorfall nach Publikwerden wenig überraschend. Als das Thema in der nächsten Sitzung aufgegriffen wurde, verhinderte die CDU, dass das Thema in öffentlicher Sitzung besprochen wurde. Wie respektlos kann man sein, wie wenig Empathie kann man haben und wie ernst ist es einigen Abgeordneten mit ihrem Auftrag zur Aufklärung, wenn man Witze über den verschlossenen Notausgang macht, der für zwei junge Menschen zur Todesfalle wurde?

In der Ablaufstruktur des UNA ist grundsätzlich unverständlich, warum geladene Gutachter:innen keinen Zugang zu den Akten bekommen haben und entsprechend wenig aussagen konnten. Verstörend war insbesondere der Ablauf am 18. März 2022: An diesem Tag war der Jurist, Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum als Gutachter im Untersuchungs­ausschuss des Hessischen Landtags geladen. Er hatte im Vorfeld dieses Termins eine 15-seitige kritische Stellungnahme verfasst, die er vor seiner Befragung einleitend vortragen wollte. Dies wurde ihm allerdings durch den Vorsitzenden des Untersuchungs­ausschusses untersagt. Wir haben nachträglich seine sehr lesenswerte Stellungnahme im Wortlaut veröffentlicht. Es passt, dass Thomas Feltes in seinem Text die Grenzen eines parlamentarischen Untersuchungs­ausschusses thematisiert und fragt, ob nicht andere Formen und Zusammensetzungen zielführender wären, um dem Interesse nach unabhängiger Aufklärung nachzukommen.

Die Stellungnahme von Thomas Feltes findet sich hier.

Zum dritten Jahrestag des rassistischen Anschlags liegen nahezu 15 Monate Untersuchungs­ausschuss hinter uns.

In diesen fast 15 Monaten haben wir erlebt, wie eng die Grenzen eines parlamentarischen Untersuchungs­ausschusses gefasst sind, in dem die (hessische) Landesregierung die Mehrheit hat. Statt lückenloser Aufklärung stehen oft parteipolitische Interessen, vor allem der Regierungsparteien, im Vordergrund.

  • Viele Sitzungen mussten unterbrochen werden, weil die CDU Fragen beanstandete.
  • Sachverständige bekommen keine Unterlagen, um sich vorzubereiten.
  • Abgeordnete verhalten sich respektlos, wenn Angehörige und Überlebende aussagen.
  • Verantwortliche verweigern mit Verweis auf laufende Verfahren die Aussage oder berufen sich auf Erinnerungslücken.

Wir haben in den fast 15 Monaten erlebt, wie immerhin in einzelnen Sitzungen wichtige Informationen oder neue Details zu offenen Fragen bekannt werden. Und vor allem wie sich wieder und wieder bestätigt, was Angehörige und Überlebende bereits früh gesagt haben. Dafür braucht es begleitend den öffentlichen Druck und die unabhängigen Untersuchungen.

Gleichzeitig wurde über die Begleitung des Untersuchungs­ausschusses durch Kundgebungen und Mahnwachen eine weitere Öffentlichkeit für die offenen Fragen hergestellt. Zu den meisten UNA-Terminen im Wiesbadener Landtag gab es gleichzeitige Mahnwachen mit Kundgebungen, zunächst direkt am Eingang des Landtages, dann auf dem nahe gelegenen Dernschen Gelände. In einer Rhein-Main weiten Zusammenarbeit haben jeweils unterschiedliche Gruppen den Infostand sowie ein Kundgebungsprogramm vorbereitet.

Viele haben zudem den Untersuchungs­ausschuss als Zuschauer:innen verfolgt. Besonders wichtig war hierbei die Beobachtung durch Familienangehörige, die Sitzplätze direkt im Plenar-Saal haben.

Vor allem die Herstellung von Öffentlichkeit über Social Media war von enormer Wichtigkeit. Es wurden und werden ausführlich per Twitter die Abläufe im Untersuchungs­ausschuss kommentiert. Daran beteiligten sich viele und stellten in verschiedenen Sitzungen auch die Fragen für die kommende Sitzung im Vorfeld.

Ein entscheidender Faktor wurde ab Sommer 2022 die Ausstellung in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture/Forensis. Sie demonstriert, wie umfassend und detailliert Aufklärung funktioniert, wenn sie sich an den Betroffenen orientiert und ein breites Netzwerk aus der Zivilgesellschaft beteiligt. Sie begleitet und fordert auch den parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss heraus.

Wir machten uns an dieser Stelle bei allen herzlich bedanken, die auf unterschiedlichste Weise unterstützt, Präsenz gezeigt, Öffentlichkeit geschaffen und damit ihren Teil zur Aufklärung beigetragen haben. Es ist weiterhin von entscheidender Bedeutung, daran mitzuwirken. Denn auch wenn immer klarer wird, dass all die Fragen zur Kette des Versagens angebracht waren, gibt es weiterhin keine Konsequenzen.

Der Untersuchungs­ausschuss (UNA 20/2) wird noch bis in den Juni 2023 hinein weiter tagen. Vor der Landtagswahl im Herbst in Hessen muss er seinen Abschlussbericht vorlegen. Wir werden ihn bis zum Ende begleiten. Und wir werden auch danach keine Ruhe geben, bis lückenlos aufgeklärt ist. Wir sind noch weit entfernt von Konsequenzen.