Interner Polizeibericht
Frag den Staat, das Portal für Informationsfreiheit, dokumentiert einen internen Bericht der Polizei Südosthessen zum Polizei-Chaos in der Tatnacht.
»Diese zehn Toten sollten etwas ändern«
Offiziell verteidigt die Hessische Landesregierung die Rolle der Polizei beim Anschlag von Hanau im Jahr 2020. Ein bisher unbekannter Bericht zeigt: Intern gab es von den eigenen Beamten heftige Kritik. Wir veröffentlichen das Dokument.
Die Polizei habe in der Tatnacht »ihr Bestes getan« – gegenüber der Öffentlichkeit betont die Führung der Hessischen Polizei seit drei Jahren, beim rassistischen
Anschlag von Hanau 2020 kaum Fehler gemacht zu haben. Der interne Bericht einer Polizei-Arbeitsgruppe zeigt jedoch ein anderes Bild: In der 50-seitigen »einsatztaktischen Nachbereitung« des Anschlags übten Beamte der Polizei in Südosthessen neun Monate nach dem Anschlag teils heftige Kritik an den Polizeistrukturen.
Wir veröffentlichen heute den lange unbekannten Bericht in voller Länge. Personenbezogene Daten darin haben wir überwiegend unkenntlich gemacht. Die Frankfurter Rundschau hat zuerst über das Dokument berichtet.
Polizei-Chaos in der Tatnacht
Angehörige der Anschlagsopfer kritisieren seit Jahren das Verhalten der Polizei in
Hanau am 19. Februar 2020. In der Tatnacht, als ein Mann neun Menschen aus rassistischen Motiven erschoss und anschließend seine Mutter tötete, war der Notruf der Polizei lange nicht erreichbar. Zudem gab es Pannen bei der Suche nach dem Täter, sein Wohnhaus war teils nicht gesichert, während er sich dort aufhielt und der Notausgang eines Tatorts war verschlossen.
Auch intern benannten Beamte mit deutlichen Worten die Probleme in der Tatnacht. Dies zeigt der Abschlussbericht einer Arbeitsgruppe der Polizei, die mit der Nachbereitung des Anschlags beauftragt war. In Rückmeldungen gegenüber der Polizei-Arbeitsgruppe »AG NAH« kritisierten Polizist*innen der Polizeistation in Hanau und anderen Polizeidirektionen in Südosthessen, dass in der Tatnacht nicht genug Polizeibeamte zur Verfügung standen, »sodass es an den Tatorten zu Verzögerungen in der Abarbeitung kam.« Aus kriminalpolizeilicher Sicht hätte früher eine sogenannte Großgefahrenlage erklärt werden müssen. Die eigentlich vorgeschriebenen Entscheidungen seien nicht eingeleitet worden.
Zudem kam es in der internen Kommunikation offensichtlich zu großen Fehlern. So kamen laut den Schilderungen im Abschlussbericht auch Fahndungshinweise »aufgrund von Kommunikationsschwierigkeiten nicht bei allen Kräften an.« Da die Beamten interne Funkgruppen mehrfach wechselten, kam es zu »Informationsverlusten«. Beamte hätten über die »interne Kommunikation weniger Informationen erhalten« als über »das Internet und soziale Medien«. Den leitenden Polizeibeamten zu erreichen, habe für am Einsatz beteiligte Polizist*innen vom Zufall abgehangen.
Angehörige als Gefährder eingestuft
Intern äußerten Polizist*innen den starken Wunsch, dass das Chaos der Tatnacht Konsequenzen für die Struktur der Polizei haben müsse. Ein Beamter habe gefordert, »diese zehn Toten sollten etwas ändern«. Nach außen verteidigt die Hessische Polizeiführung allerdings bis heute ihr Vorgehen in Hanau. Die regierungstragende Unionsfraktion im Hessischen Landtag weist Vorwürfe gegenüber der Polizei kategorisch zurück.
Auch zum Umgang mit den Angehörigen der Opfer des Anschlags findet sich Kritik im Untersuchungsbericht. Laut interner Polizei-Kritik waren die Polizeibeamt*innen auch überfordert, wie sie mit Angehörigen umgehen sollten. Die Initiative 19. Februar Hanau kritisiert seit Jahren den Umgang der Polizei mit den Überlebenden und Angehörigen nach dem Anschlag. Polizist*innen hätten sich vor allem um den Vater des Attentäters gekümmert. Angehörige der Opfer seien hingegen als mögliche Gefahr eingestuft worden.
Dies belegt nun ein internes Protokoll der Polizei, das wir mit Schwärzungen nun ebenfalls veröffentlichen. Es ist eine Zusammenfassung des Umgangs mit dem Vater des Täters, die vier Tage nach dem Anschlag angefertigt wurde. Darin stellen die Beamt*innen fest, die »Opferfamilien wären hier potentielle Gefährder für [den] Vater«. Dementsprechend müsse »eine Art Gefährderansprache gemacht werden«. Eine solche Ansprache gegenüber Opferfamilien fand auch tatsächlich statt, wie eine interne E-Mail zeigt, die wir ebenfalls veröffentlichen.
Außerdem zeigen sich die Beamt*innen im Protokoll besorgt, die »linksextremistische Szene« könne dem Vater des Täters »eine rechtsextremistische Gesinnung« unterstellen. Daraus folgerten die Polizist*innen ebenfalls eine Gefährdung des Vaters. Tatsächlich fällt der Vater seit dem Anschlag massiv mit Beleidigungen und Einschüchterungsversuchen gegenüber den Angehörigen auf.
Noch bis kurz vor den Hessischen Landtagswahlen im Oktober dieses Jahres tagt im Hessischen Parlament ein Untersuchungsausschuss zum Hanauer Anschlag. Transparenz zur Arbeit der Polizei gibt es bisher weniger durch die Landesregierung als vor allem durch die Arbeit der Initiative 19. Februar Hanau, die gemeinsam mit dem Recherchekollektiv Forensic Architecture viele Aspekte der Tatnacht untersucht hat. Da die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen die Polizei vom dortigen Informationsfreiheitsgesetz ausgenommen hat, ist die Polizei gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit nicht transparenzpflichtig.